Beim Entstehen dieser Wolfsspur-Ausgabe wurde in der Redaktion heftig über »Mut proben« diskutiert. Doch dann wollten wir die Theorie ins echte Leben bringen. Statt über Mut zu reden, wollen wir Mut beweisen. Die Kernfrage lautet: Wer traut sich, etwas zu tun, was er noch nie getan hat? Am Ende bleibe ich übrig. immerhin darf ich mir die Aufgabe selbst stellen.
MEIN VORHABEN
Ich will Unbekannten eine Blume schenken. Einfach so. Das kommt mir nicht zu schwierig vor – man soll sich ja erreichbare Ziele stecken. Am nächsten Morgen schaue ich mir die Passanten genauer an. Viele hetzen in ihren Arbeitstag, die Augen unlösbar mit dem Handy verbunden. Dann gibt es noch Morgenmuffel, Griesgrämige, Überhebliche … Alle völlig ungeeignet, beschließe ich. Da ist eine Frau mit Einkaufstrolley. Bei ihr würde ich mich vielleicht trauen.
DIE VORBEREITUNG
Mich erfasst ein wenig Bammel. Zur Beruhigung gehe ich in den Blumenladen. Ich denke, wenn ich mich langsam auf die Aufgabe zubewege, kann ich sie sicher einigermaßen elegant bewältigen. Also kaufe ich einen opulenten Herbststrauß für meine Familie und fühle mich angenehm erleichtert. Bis hierhin ist doch alles ziemlich gut gelaufen.
DIE KONKRETISIERUNG
Welche Blumen überhaupt? Rosen kommen nicht infrage. Die sind zu aufdringlich, Gladiolen zu empfindlich, Nelken vielleicht zu politisch. Dann stromern Sonnenblumen durch mein Gehirn, das ist es, denke ich: sonnig, unverfänglich und robust. Über Sonnenblumen freut sich jeder. Soll ich vielleicht einen Zettel anbringen? »Einen schönen Tag« draufschreiben? Aber damit ist mein kompletter Redetext weg.
DIE MUTPROBE
Auf meinem Schreibtisch liegen die Sonnenblumen. Der Tag der Mutprobe ist gekommen. Während ich zu den Blumen greife – Schultern fallen lassen, tief atmen, lächeln –, füllen sich meine Knie mit Pudding. Einfach los, sage ich mir, jetzt bloß nicht zaudern, raus auf die Straße, sofort. Eine Frau mit Hündchen läuft mir über den Weg. Ich gehe direkt auf sie zu, strecke ihr die Blume entgegen und sage: »Ich will Ihnen eine Blume schenken.« Sie schaut mich irritiert an. »Sind Sie von den Grünen?«, fragt sie. »Nein«, meine ich, »ich will nur einem mir unbekannten Menschen eine Freude machen.« Ihr Gesicht beginnt zu strahlen, der Hund zerrt an der Leine. Dann nimmt sie die Sonnenblume und dreht sich im Weitergehen noch einmal um. »Danke, danke schön«, ruft sie mir winkend zu. Ich atme laut hörbar aus: puhhh! Es ist geschafft! In meinem Bauch breitet sich heller Jubel aus. Der Pudding aus meinen Knien zieht ab. Ich fühle mich wunderbar wach, frisch und unglaublich stark. Da entdecke ich den nächsten Kandidaten (Anzug, Laptoptasche, Handy). Und schon rufe ich: »Halt, warten Sie, ich will Ihnen eine Blume schenken!«
ZUR NACHAHMUNG EMPFOHLEN
An diesem Vormittag habe ich zwölf Unbekannten eine Freude gemacht. Ich muss zugeben, das kostet zu Beginn schon etwas Überwindung, aber die Belohnung ist riesig: Stolz, Stärke, Selbstbewusstsein, Freude … und eine tolle Geschichte zum Weitererzählen. Deshalb sei der Selbstversuch uneingeschränkt zur Nachahmung empfohlen. Und wer keine Blumen verschenken mag, der schenkt einem Unbekannten ein Kompliment oder lädt einen oft übersehenen Kollegen oder Nachbarn auf eine Tasse Kaffee oder Tee ein …
Bildnachweis: Olena Vasylieva