Dass der erste Eindruck entscheidet, macht – entwicklungsgeschichtlich betrachtet – großen Sinn. Denn auf das erste Knacken im Busch musste blitzschnell entschieden werden: Freund oder Feind? Gut oder gefährlich? Mein Jäger oder mein Opfer? Eine zweite Chance gab es nicht.
Auch wenn es bei heutigen Begegnungen nicht mehr um Leben oder Tod geht, der erste Eindruck bleibt bestimmend: sympathisch oder unsympathisch? Offen oder verschlossen? Schlau oder einfältig? In Windeseile sucht das Gehirn nach vorhandenen Mustern und gleicht frühere Erfahrungen mit der neuen Situation ab. Dieser Schnellcheck vereinfacht die Einordnung von Charakteren oder Situationen erheblich. Natürlich spielen bei dieser Schnelleinordnung äußere Faktoren eine wichtige Rolle. Zum Aussehen gesellen sich aber noch viele weitere Aspekte: die Haltung zum Beispiel, Mimik, Gestik, Körpersprache, Umgangsformen, Beweglichkeit, der Klang der Stimme, das Sprachtempo, die Aufmerksamkeit für das Gegenüber, der spezielle Duft … Ob man sich gut riechen kann, fragt sich bei einer ersten Begegnung wohl niemand ernsthaft. Das Gehirn aber erfasst auch solche Hinweise und entwickelt aus komplexen Informationen ein einfaches Charakterbild, das der ersten Einordnung dient. Passt? Passt.
BLONDINENWITZ TRIFFT WEISSE SOCKEN.
Weil das Gehirn auf vorhandene Muster und Informationen zurückgreift, ist es nicht ausgeschlossen, dass es dabei auch auf Verallgemeinerungen, Klischees oder Vorurteile trifft. Da kann es schon passieren, dass der erste Eindruck ein vielgeübtes Vorurteil präsentiert. Etwa, wenn ein Herr mit weißen Socken in Sandalen ganz klar als »typisch deutsch« eingeschätzt oder die Blondine wahlweise als sanftmütiger Engel oder als ein wenig infantil charakterisiert wird – Blondinenwitz lässt grüßen. Nur wem es gelingt, seine Klischeevorstellungen zu entlarven, der ist bereit für einen lohnenden zweiten Blick.
OFFEN FÜR DEN ZWEITEN BLICK
Eine erste Begegnung, eine rasante, gegenseitige Einschätzung – ob wir einen Menschen interessant und sympathisch finden, entscheidet sich meist in Sekundenschnelle. Beim Schnelleinordnen von Charakteren können uns Klischeevorstellungen den Blick verstellen oder wir sortieren den ersten Eindruck einfach in »Schubladen«. Noch einmal genauer hinzuschauen ist dann gar nicht so einfach – aber oft lohnend.
Sie meinen, der Mann im gut sitzenden Business-Anzug ist bestimmt ein Versicherungsvertreter, die ältere Dame aus der zweiten Etage eine Expertin für Apfelkuchen? Vielleicht laden Sie die nette Nachbarin einfach mal zu einer Tasse Kaffee ein. Aber besorgen Sie vorsichtshalber den Apfelkuchen selbst. Denn Sie werden womöglich erfahren, dass die sympathische, ältere Frau ihr Berufsleben als Anwältin in einem Wanderzirkus zugebracht hat. Sie erzählt – sprühend vor Begeisterung – von Abenteuern aus aller Welt, von Missgeschicken, Krisenzeiten und dem großen Glück, Kinderaugen zum Leuchten zu bringen. So wird – durch Ihr unvoreingenommenes Interesse – die »Apfelkuchenbäckerin« zur Bereicherung in Ihrem Leben.
Dass es lohnend ist, dem ersten, schnellen Blick einen zweiten, tieferen folgen zu lassen, belegt auch eine Studie der New Yorker Cornell University: Die Studien-Teilnehmer erfuhren von einem Mann, der in ein Haus einbricht. Wenig überraschend, dass die Probanden den Einbrecher nicht sonderlich sympathisch fanden. Daran änderte sich auch nichts, als die Teilnehmer hörten, dass dieser Mann am Vortag ein Kind davor bewahrt hat, von einem Zug überfahren zu werden. Als sie aber erfuhren, dass der Mann in das Haus eingebrochen war, um zwei Kinder vor einem Feuer zu retten, änderten die Probanden ihre Meinung sofort.
KONTEXT HILFT AUS DENKSCHUBLADEN.
Die unscheinbar wirkende neue Kollegin, der mürrische Schüler, der jeden Tag an Ihrer Tür vorüberschlurft – machen Sie sich auf den Weg, die Geschichte hinter dem ersten Eindruck zu entdecken. Wir wünschen Ihnen Neugierde, Offenheit, Mut dabei und jede Menge interessanter Begegnungen.
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