FRAGEN ZUM LEBEN…
Mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der sich der Wolf seinen Lebensraum zurückerobert, wächst bei vielen modernen Menschen die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit.
Die Psychoanalytikerin Clarissa Pinkola Estés vertritt die Ansicht, dass die Geschichte der – Wölfe, „im Laufe der Zeit immer mehr der Geschichte des weiblichen Geschlechts auf diesem Planeten glich.“ Der vermeintlich böse Wolf steht in dem Ruf, egoistisch und getrieben von der eigenen Gier nur zu seinem Vorteil zu handeln und zu töten. Während die ungezähmte Frau als Hexe verfolgt und vertrieben wurde. Die Zivilisation hat alles Ursprüngliche und Instinktive systematisch zurückgedrängt. Dabei ist überall dort, wo etwas erfunden oder neu geschaffen wird, der natürliche Instinkt des Menschen zu Hause. Er verstärkt unsere naturgegebene Intelligenz und unsere Ausdruckskraft.
SELBSTERHALTUNG
Es ist dem Menschen nicht vom Schicksal bestimmt, ein kümmerliches Dasein zu fristen. Doch häufig behindern gesellschaftliche Faktoren eine natürliche Entwicklung. Frauen und Männer jagen falschen Idealen nach und unterwerfen sich oft freiwillig einer permanenten Bewertung von außen. Sie repräsentieren das „lammfromme“ Schaf, den Inbegriff von Unschuld und Wehrlosigkeit. Auf diese Weise zieht der Mensch in der freien Natur selbstverständlich den Kürzeren. Es erfordert Mut, sich mit einem wolfsartigen Sprung nach vorn auf die Jagd zu begeben und das Unbekannte zu erforschen. Aber wenn wir nicht hinausgehen in die Welt, wird unser Leben nie beginnen. Statt einem von der Gesellschaft vorgeschriebenen Set von Verhaltensregeln zu folgen, sollte sich der Mensch die Wölfe zum Vorbild nehmen und zu den Wurzeln seiner wilden, instinktiven Natur zurückkehren, empfiehlt Clarissa Pinkola Estés in ihrem Buch.
…ANTWORTEN VOM WOLF
„Nicht nur die wilden Tiere, auch die wilden Frauen dieser Erde sind vom Aussterben bedroht.“
– Dr. Clarissa Pinkola Estés
Wilde Wölfe sind neugierige, aber auch sehr vorsichtige Tiere. Bei einer Begegnung ergreifen sie nicht panisch die Flucht, sondern ziehen sich meist gelassen und bedacht zurück. Sie bewegen sich so leichtfüßig und lautlos durch ihr Revier, dass sie sehen können, ohne gesehen zu werden. Auf diese Weise beschatten sie jedes Wesen, das ihr Territorium durchquert und sammeln Informationen. Der Mensch kann vom Wolf lernen, Fallen aus dem Weg zu gehen. Betrachtet man die Welt durch die Augen eines Wolfes, lernt man, Schmeicheleien und Lügen zu durchschauen. Wölfe analysieren nicht und wägen nicht jede Entscheidung im Kopf ab. Sie folgen ihren Eingebungen. Würde der Mensch auf allen Vieren stehen, er könnte den Widerständen in der Außenwelt ohne übertriebene Anpassung entgegentreten. Im Zwiegespräch mit der Natur und in Kontakt mit der Erde ließen sich die archaischen Instinkte wiederbeleben. Dr. Estés vertritt die Ansicht, dass freilebende Wölfe und Menschen vieles gemeinsam haben: instinktives Feingefühl, eine Vorliebe für alles Spielerische und eine schier unverrückbare Loyalität. Beide Gattungen sind neugierig, wissbegierig, zäh und ausdauernd. Doch mit der gleichen Gründlichkeit, mit der der Mensch die Natur zurückdrängt, hat er auch die Erinnerung an „unser eigenes innewohnendes Wildwesen“ gelöscht. Wölfe pflegen gute Beziehungen zueinander. Wenn sich ein Wolfspärchen zusammentut, dann fast immer fürs ganze Leben. Obwohl sie Streitereien bissig austragen, überstehen ihre Beziehungen die härtesten Winter. Wölfe halten über alle Schicksalsschläge hinweg zu ihren Lebensgefährten. Menschen müssen solche Treue erlernen.
RUDEL = FAMILIE
Wölfe und Menschen sind von Natur aus beziehungsorientiert. Sie sind anpassungsfähig, standhaft und in Krisensituationen beweisen beide Gattungen einen todesmutigen Heroismus. Um unseren Wurzeln so nahe wie möglich zu kommen, müssen wir uns ein Rudel suchen, den Seelenverwandten finden. Wolfsrudel ähneln einer menschlichen Familie. Die meisten bestehen aus einem Wolf und einer Wölfin sowie deren Nachkommen. Die Zahl neuer Welpen und abwandernder Jungwölfe gleicht sich aus. Daher bleibt die Größe eines Wolfsrudels immer gleich. Die Eltern leben in einer lebenslangen Partnerschaft und führen gemeinsam die Familie an. In freier Natur leben Wolfsrudel ohne Streitigkeiten um die Rangordnung, um Führungspositionen und um das Recht auf die Fortpflanzung. Eine Hierarchie mit „Alpha“-, „Beta“- und „Omega“-Wölfen entsteht nur in Wildparks und Zoos. Doch die Wölfe lehren den Menschen nicht nur Loyalität und Gleichberechtigung, sondern auch Demut: Eine Wolfsmutter, die eines ihrer tödlich verletzten Jungen tötet, lehrt Mitleid und die Notwendigkeit, den Tod zu den Sterbenden zu lassen.
VORBILD FÜR DEN MENSCHEN
Für den Wolf ist es wichtig, dass der Körper gesund ist und stark bleibt. Verletzt sich ein Wolf, kehrt er in seine Höhle zurück. Menschen machen nach Verletzungen oft weiter. Ruhelosigkeit und Depressionen sind häufig die Folge. Vor allem Männer müssen lernen, ihre Angst vor Schwäche zu überwinden. Es gibt keine festen Regeln für einen intuitiven Menschen. Jeder weiß selbst am besten, was von Moment zu Moment angebracht ist. Aber Dr. Estés gibt 10 weitgefasste, anregende Hinweise, die dabei nützlich sein können, immer den impulsgebenden und kraftspendenden Boden unter den Füßen zu behalten und zugleich die Nasenspitzen in den Wind zu halten, der das Neue herbeiträgt und das Alte verweht. Wer gerade schwer zu kämpfen hat, sollte am besten mit Regel Nummer 10 anfangen.
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