FRAGEN ZUM WOLF …
Zwiespältig sind zumeist die Gefühle, die wir dem Wolf gegenüber hegen. Woran liegt das? Wissenschaftler gehen davon aus, dass Mensch und Wolf Jahrhunderte lang friedlich nebeneinanderlebten. Damals zog der Mensch noch jagend, sammelnd und wandernd durchs Land. Der Wolf blieb in seinem Revier, fand hier seine Nahrung, Mensch und Wolf kamen sich nicht ins Gehege. Erst als der Mensch sesshaft wurde, Felder bestellte, Viehzucht betrieb, änderte sich das Verhältnis grundlegend. Der Wolf bedrohte zwar nicht den Menschen, wurde aber für die Schafe und Ziegen gefährlich. Mit der aufkommenden Waldweide trieb der Mensch die Nutztiere praktisch dem Wolf zu. Die Übergriffe häuften sich. Der graue Jäger wandelte sich zum »bösen Wolf« und wurde gnadenlos verfolgt. Um 1850 gab es keine freilebenden Wölfe mehr in Deutschland. 150 Jahre später melden Naturschützer eine Sensation: Der vom Menschen ausgerottete Wolf ist zurückgekehrt. Auf einem Truppenübungsplatz in der Oberlausitz werden die ersten Wolfswelpen in Freiheit geboren. Heute leben gemäß World Wide Fund For Nature (WWF) 157 Wolfsrudel, 27 Wolfspaare und 19 sesshafte Einzelwölfe in Deutschland (Stand 12/2021). Doch mit dem Wolf kehren auch Urängste, Unsicherheiten und Interessenskonflikte zurück. Hat der Wolf ein Akzeptanzproblem?
… ANTWORTEN ZUM LEBEN
Beschützer? Konkurrent? Bruder? Feind? Das Verhältnis zwischen Mensch und Wolf ist ambivalent. Eine Spurensuche.
Es mag zutreffen, dass das Unheimliche das Heimliche-Heimische ist.
– Sigmund Freud –
MENSCH UND WOLF
Mythologien, Legenden und Märchen dieser Welt spiegeln die ambivalente Beziehung des Menschen zum Wolf. Völker, die von der Jagd lebten, verehren den Wolf als ebenbürtiges, überlegenes oder gar über-sinnliches Wesen. Einige der amerikanischen Ureinwohner achten den Wolf als Gründungsvater ihres Stammes. Die Inuit im hohen Norden sehen im Wolf einen Bruder. Aborigines nennen den Stern Sirius den »Stern des Wolfes« und wissen dort die Heimat ihrer Ahnen. Romulus und Remus, die Gründer der Stadt Rom, sollen von einer Wölfin gesäugt und aufgezogen worden sein. In der griechischen Mythologie ist Hekate die Göttin der Magie, der Totenbeschwörung, der Weggabelungen, Schwellen und Übergänge. Sie ist die Wächterin der Tore zwischen den Welten und wird häufig in der Begleitung von drei Wölfen gezeigt. Spätestens ab dem Mittelalter wird der Wolf dämonisiert und in Geschichten häufig als Men-schenfresser, als das Böse dargestellt. Wer kennt nicht die Märchen der Gebrüder Grimm »Rotkäppchen« oder »Der Wolf und die sieben Geißlein«? Sie haben Generationen von Kindern geprägt.
PERSPEKTIVWECHSEL
Ein Wolfsrudel in freier Wildbahn lebt ähnlich einer menschlichen Familie. Da gibt es meist Vater, Mutter und die Kinder. Die Eltern leben eine monogame Partnerschaft und bleiben ihr Leben lang zusammen. Anfang Mai kommen die Welpen zur Welt. Im ersten Lebensjahr sind sie voll und ganz auf die Fürsorge der Eltern angewiesen. Die Jugendlichen, Jährlinge genannt, bleiben bis zur Geschlechtsreife »zu Hause« und helfen bei der Aufzucht der Kleinen. Sobald sie bereit sind, eine eigene Familie zu gründen, verlas-sen sie das elterliche Terrain und machen sich auf die Suche nach einem Partner, einer Familie, einem eigenen Revier. So leben Wolfsrudel in freier Wildbahn – ohne Kämpfe um Rangordnung, um Führungspo-sitionen oder um das Recht auf Fortpflanzung. Irgendwie erscheint uns so ein Wolfsleben ganz vertraut. Woher aber kommt dann das Furchterregende, Unheimliche, das mit dem Wolf verbunden ist? Sigmund Freud schreibt: »Es mag zutreffen, dass das Unheimliche das Heimliche-Heimische ist.« Demnach ist uns nicht nur das Fremde, Unbekannte unheimlich, sondern auch das, was zutiefst zu uns gehört, das wir aber nicht wahrnehmen wollen, ignorieren, verdrängen. Das Zügellose, Unkontrollierbare, Triebhafte – die Wolfsnatur des Menschen. Vielleicht ist es lohnend, sich auch die eigenen finsteren Ecken einmal an-zuschauen? Hell und Dunkel, Ebbe und Flut – Gegensätzliches steht sich nicht beziehungslos gegenüber. Es braucht sich, bedingt sich wechselseitig. Die Liebe zum jungen, grünen Jahr kann sich ohne die Erfah-rung des kalten, grauen Winters nicht voll entfalten.
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