FRAGEN ZUM WOLF …
Das Statistische Landesamt zählt Mitte 2023 in Bayern 13,4 Millionen Menschen. Zum vergleichbaren Zeitpunkt streifen 23 standorttreue Wölfe durch ihre bayerischen Reviere, wie das Landesamt für Umwelt meldet. Ein ungleiches Kräfteverhältnis, das erst einmal für den Menschen nicht bedrohlich wirkt.
Allerdings werden durchwandernde Tiere dabei statistisch nicht erfasst. Sie alle dürften sich aber über das in Bayern üppig vorhandene Nahrungsangebot freuen. Rehe, Hirsche, auch Wildschweine haben hierzulande kaum natürliche Feinde, passen hervorragend ins Beuteschema der Wölfe und machen etwa 90% ihrer Nahrung aus. Die Wolfspopulation nimmt zu. Weil Wölfe am liebsten das fressen, was am einfachsten zu erbeuten ist, verspeisen sie auch ganz junge oder alte und kranke Tiere. Das hilft, den Wildtierbestand zu regulieren und gesund zu erhalten. Der Journalist, Autor und Jäger Eckhard Fuhr sieht den Wolf daher nicht als einen Konkurrenten um die gleiche Beute, sondern als Kollegen bei der Jagd. Das sehen nicht alle so. Nutztierhalter:innen fürchten um ihre Herden, um finanzielle Einbußen, Bürgerinitiativen fordern schon wolfsfreie Zonen. Vorbeugende Maßnahmen zum Herdenschutz sind notwendig und werden vom Freistaat finanziell unterstützt. Für gerissene Nutztiere gibt es Ausgleichszahlungen. Trotzdem werden die Konflikte immer sichtbarer und lauter. Während die einen im Wolf ein Symbol für die Gesundheit und wilde Schönheit der Natur sehen, fordern die anderen Erleichterungen bei der »Entnahme« der wilden Tiere. Welche Rolle spielt bei der Angst vor dem Wolf die Angst vor einem Kontrollverlust?
… Antworten zum Leben
Zeigt sich in der Angst vor dem Wolf auch die Angst vor dem Verlust der Kontrolle? Lässt sich Natur überhaupt kontrollieren? Was, wenn wir uns — statt alles im Griff behalten zu wollen — der Natur verbunden fühlen?
Seit der Antike und zunehmend mit dem Zeitalter der Aufklärung ist die Vorstellung, Kontrolle über uns selbst und die Welt zu haben, in unserer Gesellschaft verankert. Kontrollverlust ist bedrohlich. Wer plötzlich feststellen muss, dass er oder sie keinen Einfluss mehr auf den Verlauf seines Lebens hat, versucht, die verlorene Kontrolle so schnell wie möglich wiederherzustellen. Doch wie alles »im Griff behalten« in einer Welt, in der die Ökosysteme leiden, kriegerische Auseinandersetzungen zunehmen, Flüchtlings, Informationsund Desinformationsströme wachsen? Wie in Goethes Ballade vom Zauberlehrling, der des Meisters Besen unter seinen Willen zwingen will, lässt sich die Kontrolle über die einmal gerufenen Geister nicht so einfach wieder herstellen.
KEINE MAUER SCHÜTZT VOR KONTROLLVERLUST
»In einer flüssigen Welt wächst die Sehnsucht nach Ordnung«, schrieb der Soziologe Zygmunt Bauman schon vor 20 Jahren. Er spricht von »einem übersteigerten Willen nach Ordnung, nach Reinheit, nach aufgeräumten Gemeinschaften, geprägt von einem Glauben an die Technik, an die Rationalität, an die Möglichkeit der Kontrolle der Natur, an das arbeitsteilige Regelwerk der Bürokratie.« Der Ruf nach starken Mauern, einfachen Ordnungen, nach Rationalität, Regeln, Hierarchien und Kontrolle wird wieder lauter. Doch in einer entfesselten Welt wirken sie weder stabilisierend noch schützend oder heilend.
KONTROLLE IST EINE ILLUSION
Auch die Natur zeigt uns, dass es dem Menschen unmöglich ist, alles zu kontrollieren. Menschenmöglich wäre es aber, das eigene Spielfeld weiter, flexibler zu fassen. Der Emotion, der Empathie Raum zu geben, sich auf unscharfe Grenzen und Widersprüchlichkeiten einzulassen, die Ungewissheit zu betrachten und zu lernen, mit ihr umzugehen.
KONTROLLVERLUST IST EINE VORAUSSETZUNG FÜR DEN SCHLAF
In einem Interview erzählt Alexandra Corell, Fachärztin für Neurologie und Schlafmedizin, die schöne Geschichte vom Schlaf, der wie eine Taube sei. »Wenn du versuchst nach ihr zu greifen, fliegt sie weg, aber wenn du die Hand ausstreckst und nicht hinschaust, dann kommt sie.« Kontrollverlust lädt das Unbewusste zu uns ein, die Träume, die Monster und die Engel. Und die sexuelle, vitale Kraft, die uns zum Beben bringt. Wo Vertrauen wächst, braucht es keine Hierarchie, keine Kontrolle.
VERBUNDENHEIT UND WOHLBEFINDEN
Und der Wolf? Beladen mit schaurigen Märchen und Mythen gerät Isegrim in unseren Breiten schnell zur Projektionsfläche für menschliche Ängste. In indigenen Kulturen hingegen wird der Wolf als Beschützer, Stammesvater oder Bruder verehrt. Hier wie dort lässt sich die Wildnis der Natur nicht kontrollieren. Regulieren vielleicht, vernichten sicher – auch wenn dies unsere eigene Lebensgrundlage zerstört. Wer bedenkt, dass der Mensch nicht über der Natur steht, nicht ihr Beherrscher, sondern Teil von ihr ist, wird beim Waldspaziergang ihre beruhigenden und heilenden Kräfte spüren, den Wind, der die Gedanken aus ihrem Karussell befreit, den federnden Boden, der erdet. Eine kanadische Studie beweist 2014, dass naturverbundene Menschen fröhlicher, vitaler und zufriedener mit ihrem Leben sind: Die Verbundenheit mit der Natur schafft Wohlbefinden.
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