Gemäß der Deutschen Schlaganfall-Hilfe erleiden in Deutschland 200.000 Menschen pro Jahr erstmalig einen Schlaganfall. Dazu kommen 70.000 wiederholte Schlaganfälle. Woran lässt sich ein Schlaganfall erkennen? Kann man sich gegen einen Schlaganfall wappnen? Im Passauer Wolf Reha-Zentrum Ingolstadt nimmt sich der Ärztliche Direktor und Chefarzt der Neurologie, Dr. med. Rainer Dabitz, Zeit für unsere Fragen. Er ist ausgewiesener Experte im Bereich der Diagnostik, Therapie und Rehabilitation von Schlaganfall-Erkrankungen und Regionalbeauftragter der Deutschen Schlaganfall-Hilfe.
WAS UMFASST DIE NEUROLOGIE?

Die Neurologie beschäftigt sich mit dem Aufbau, der Funktion und den Erkrankungen des Nervensystems. Das Nervensystem besteht einerseits aus dem zentralen Nervensystem (ZNS), zu dem auch das Gehirn und das Rückenmark gehören, und andererseits aus dem peripheren Nervensystem (PNS), das die peripheren Nerven, Nervenwurzeln und Nervengeflechte umfasst. Dazu gehört das vegetative Nervensystem, das die inneren Organe und unbewussten Körperfunktionen reguliert. Auch die Muskeln fallen zu einem Teil in das Fachgebiet der Neurologie, denn Muskeln und Nerven bilden eine untrennbare Einheit.
Worin besteht für Sie die besondere Faszination der Neurologie?
Dr. med. Rainer Dabitz: Das Nervensystem ist das vielleicht komplexeste und faszinierendste Organ des Menschen. In Kenntnis der Beziehungen zwischen kleinsten und größeren Strukturen und Funktionen des Gehirns und der Nerven, ermöglicht bereits die sorgfältige Befragung und körperliche Untersuchung von Betroffenen die Eingrenzung möglicher Diagnosen. Daneben ist die Neurologie eine relativ junge Disziplin mit rasantem Zugewinn an diagnostischen Verfahren und Möglichkeiten der Behandlung. Bei der Auflösung der manchmal sehr komplexen Zusammenhänge steht sie in engem Kontakt mit den hochspezialisierten Disziplinen der Neuroimmunologie, der Neuroonkologie, der Neurochirurgie, der Neuroradiologie, aber auch der Gefäßchirurgie und der Inneren Medizin. Insbesondere in der neurovaskulären Medizin, der Erforschung von Erkrankungen der Blutgefäße von Gehirn und Rückenmark, waren die Fortschritte in den Behandlungsoptionen so bahnbrechend, dass das vor 25 Jahren oft noch schlimme Schicksal von Schlaganfall-Patient:innen in der Prognose entscheidend verbessert werden konnte. Ich schätze mich sehr glücklich, dass ich diese Entwicklung während meiner Zeit in der Akutneurologie miterleben und sogar mit vorantreiben konnte.
Was passiert bei einem Schlaganfall?
Dr. med. Rainer Dabitz: Das Wort Schlaganfall ist eigentlich ein umgangssprachlicher Begriff und fasst mehrere Erkrankungen zusammen. Allen gemeinsam ist, dass es plötzlich und häufig ohne jede Vorwarnung zum Ausfall körperlicher Funktionen kommt, wie »ein Blitz aus heiterem Himmel«. Daraus leitet sich das Wort Schlaganfall ab. Klinisch neurologisch stellt man plötzlich Störungen in der Funktion des Gehirns fest. Die Art der Ausfälle lässt zwar häufig auf den Ort der Schädigung schließen, nicht aber auf die Ursache. Mehr als zwei Drittel aller Schlaganfälle entstehen durch eine Mangeldurchblutung. Dabei wird ein hirnversorgendes Gefäß durch ein Blutgerinnsel verschlossen und das abhängige Areal des Gehirns nicht mehr durchblutet. Diese Gerinnsel können lokal entstehen oder aber mit dem Blutstrom fortgeleitet worden sein. Weniger häufig, aber in der Auswirkung auch sehr beeinträchtigend, sind Einblutungen in das Gehirn, unter oder zwischen die Hirnhäute wie z.B. bei Einrissen in Gefäß-Aussackungen.
Woran kann ein Laie einen Schlaganfall erkennen?
Dr. med. Rainer Dabitz: Typische Symptome eines Schlaganfalls können sein:
- plötzliche Gefühlsstörungen oder Lähmungen
- plötzlich aufgetretene Störungen der Sprache oder des Verstehens
- plötzlich aufgetretene Doppelbilder, Blindheit auf einem Auge oder halbseitige Störungen des Gesichtsfelds
- plötzlich aufgetretene halbseitige Ungeschicklichkeit, Schwindel mit Stand- und Gangunsicherheit
- plötzlich aufgetretene lallende Sprache und Schluckstörungen
- rasende, bisher nicht bekannte Kopfschmerzen
- plötzliche Bewusstlosigkeit, häufig mit vollständiger Fehlstellung der Augen
Warum ist der Faktor Zeit so entscheidend?
Dr. med. Rainer Dabitz: Unser Gehirn hat kaum Möglichkeiten, Nährstoffe und Sauerstoff zu speichern, und ist deshalb auf eine stetige Versorgung mit Blut angewiesen. Sinkt die Durchblutung unter ein kritisches Maß, entstehen sehr rasch Funktionsausfälle. Dauert dieser Zustand länger an, gehen mehr und mehr Gehirnanteile zugrunde. Eine Minute bedeutet dabei den Untergang von 1,9 Millionen Neuronen, 14 Milliarden Synapsen und 12 km Nervenfasern (Stroke 2006; 37:263-266). Je früher die Behandlung einsetzt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, die Schädigungen gering zu halten. Im Zeitraum von bis zu 4,5 Stunden nach Beginn der Symptome können Gerinnsel-auflösende Medikamente eingesetzt werden. Gerade in den letzten Jahren haben sich aber die bildgebenden Verfahren so verbessert, dass die Gerinnselauflösung auch in verlängerten Zeiträumen relativ sicher angewendet werden kann. Daneben ist es zu einem Paradigmenwechsel gekommen. Heute wird häufig die intravenöse Behandlung mit einem Manöver kombiniert, das über einen in die Blutbahn eingebrachten Katheter das Blutgerinnsel mechanisch entfernt. Die Weiterentwicklung solcher Katheter und die Verbesserung der bildgebenden Verfahren machen es möglich, dass auch relativ dünne Gefäße erreichbar geworden sind. Dennoch bleibt ein Schlaganfall ein medizinischer Notfall. Dazu zählen auch flüchtige Symptome, die sich rasch zurückbilden. Denn auch diese sogenannten ischämischen Attacken könnten Vorboten eines Schlaganfalls sein, und gerade dann besteht die Möglichkeit, es gar nicht erst dazu kommen zu lassen.
Im ländlichen Raum sind spezialisierte Kliniken nicht unbedingt schnell erreichbar. Wie schafft man es, eine flächendeckende Versorgung von Betroffenen sicherzustellen? Welche Verbindung gibt es zu Netzwerken aktuell?
Dr. med. Rainer Dabitz: Nahezu alle bayrischen Regionen sind mittlerweile durch Schlaganfall-Netzwerke abgedeckt. Allen gemeinsam ist, dass Schlaganfall-Zentren, die alle Möglichkeiten zur Diagnostik und Therapie 24 Stunden rund um die Uhr vorhalten, Kliniken betreuen, die diese Möglichkeit nicht haben. Dennoch kann gerade der Faktor Zeit durch eine Verlegung in eines dieser Krankenhäuser im ländlichen Raum deutlich reduziert werden. Die Patient:innen erhalten vor Ort die primäre Diagnostik und können sich durch die Schlaganfall-Zentren beraten lassen. Dort sehen Expert:innen die Bilder, können eine klinische Untersuchung über telemedizinische Kamerasysteme durchführen und beraten, welche Behandlung der Patient oder die Patientin erfahren soll. So kann z.B. beim Verschluss eines großen Blutgefäßes die intravenöse Gerinnsel-auflösende Behandlung dort begonnen werden und Betroffene unter laufender Therapie in das Schlaganfall-Zentrum verlegt werden. Dort besteht dann auch die Möglichkeit, etwa eine notwendige Operation durchzuführen. Netzwerke wie z.B. NEVAS schaffen günstige Voraussetzungen. NEVAS ist die Abkürzung für neurovaskuläres Versorgungs-Netzwerk Südwestbayern. Die drei Schlaganfall-Zentren München Großhadern, Günzburg und Ingolstadt betreuen dabei insgesamt 19 Kliniken im Südwesten Bayerns von Garmisch-Partenkirchen bis Weißenburg. Die Besonderheit dieses Netzwerks besteht darin, dass jedes Schlaganfall-Zentrum einige Kliniken im Einzugsbereich telemedizinisch versorgt. Die Betreuung geht aber auch darüber hinaus – bis hin zu gemeinsamen Vor-Ort-Visiten. Der Vorteil dieser Regionalität besteht darin, dass häufig die Ansprechpartner:innen vor Ort und die Kapazitäten zur Übernahme bekannt sind. Sollte eines der Zentren tatsächlich ausgelastet sein, wird ein anderes die Behandlung übernehmen. Ich selbst bin heute nicht mehr akut telemedizinisch tätig. Ich sehe heute meine Aufgabe eher darin, die Häuser im NEVAS-Netzwerk durch eine sehr rasche Übernahme der Patient:innen in die Rehabilitation zu unterstützen.
Lässt sich ein Schlaganfall-Risiko minimieren?
Dr. med. Rainer Dabitz: Das Schlaganfall-Risiko lässt sich deutlich reduzieren. Eine ausgewogene Ernährung, regelmäßige Bewegung, der Verzicht aufs Rauchen und auf zu viel Alkohol tragen wesentlich dazu bei. Eine konsequente Untersuchung und Behandlung der Gefäß-Risikofaktoren, die auch für andere Gefäßerkrankungen verantwortlich sind, hilft sehr, das Risiko zu reduzieren. Die Einstellung eines Diabetes mellitus, einer arteriellen Hypertonie, einer Fettstoffwechselstörung und die Untersuchung auf das Vorliegen einer Herzrhythmusstörung sind unabdingbare Maßnahmen. Leider bleibt das Risiko erhöht, nach einem Schlaganfall, einen nächsten zu erleiden. Deshalb ist dann eine noch konsequentere Einstellung der Gefäß-Risikofaktoren erforderlich, ebenso wie die konsequente Einnahme der Medikamente zur Sekundärprävention. So helfen beispielsweise moderne Medikamente zur Blutverdünnung bei bestimmten Herzrhythmusstörungen, das Risiko um 60 Prozent zu reduzieren. Es gibt sonst kaum eine Behandlung oder Maßnahme in der Medizin, die diese Risikoreduktion auch nur annähernd erreicht.
Wenn täglich zehn Minuten in die Schlaganfall-Prävention investiert würden, was würden Sie raten, in diesen zehn Minuten zu tun?
Dr. med. Rainer Dabitz: Die Weltgesundheitsbehörde (WHO) empfiehlt pro Woche mindestens 150 Minuten moderate Bewegung. So lasse sich das persönliche Schlaganfall-Risiko um 50 Prozent senken. Dazu zählen auch Spaziergänge oder Fahrradfahren.
Ein Tipp, den Sie Betroffenen und ihren Angehörigen mit auf den Weg geben möchten?
Dr. med. Rainer Dabitz: Jeder Schlaganfall ist ein Notfall und muss sofort behandelt werden. Zögern Sie deshalb nicht, die Notrufnummer 112 anzurufen. Ein Schlaganfall, der dennoch schwere Funktionseinschränkungen hinterlässt, ist natürlich eine extreme Belastung für die Betroffenen und ihre Angehörigen – ein Schlaganfall trifft immer mindestens zwei Personen. Betroffenen und ihren Angehörigen möchte ich mit auf den Weg geben: Es ist nichts unmöglich, auch wenn es initial so erscheint. Man darf nie aufgeben, auch nicht, wenn sich der Fortschritt nicht so schnell einstellt wie gewünscht. Durch intensive Behandlung und Betreuung lassen sich sehr, sehr viele Verbesserungen erreichen.
Wir danken Dr. med. Rainer Dabitz für das tiefgreifende Gespräch.

Dr. med. Rainer Dabitz, Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Neurologie im Passauer Wolf Reha-Zentrum Ingolstadt
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