Ivar Buterfas-Frankenthal blickt auf ein 90-jähriges Leben voller Geschichte zurück. Als Kind überlebte er nur knapp den Holocaust, seit Jahrzehnten leistet er Aufklärungsarbeit als Zeitzeuge. Ein Schlaganfall im vergangenen Jahr führte den gebürtigen Hamburger zur Reha in den Passauer Wolf nach Bad Griesbach. Während seines Aufenthalts sprachen wir mit ihm und seiner Frau Dagmar über ihr ereignisreiches Leben, über Kraftquellen, Optimismus und das Geheimnis ihrer fast 70-jährigen Ehe.
AUS DER BAHN GEWORFEN
Geboren im Dritten Reich als Kind mit jüdischen Wurzeln, war für Ivar Buterfas-Frankenthal von Anfang an ein steiniger Weg vorherbestimmt. Aufgeben kam für ihn trotzdem nie in Frage. Sein Leben lang hat er für seine Rechte und Ziele gekämpft. Ohne Schulabschluss schaffte er es so zum erfolgreichen Unternehmer und bis heute wird er für seine jahrzehntelange Aufklärungsarbeit als Zeitzeuge gefeiert. Doch es gibt Momente im Leben, in denen selbst größte Willenskraft und Stärke nicht ausreichen. Als Ivar Buterfas-Frankenthal seinen Sohn im Oktober letzten Jahres verlor, war ein solcher Moment. Der Schmerz durch den Verlust war so groß, dass er am Tag der Beerdigung einen Schlaganfall erlitt. Er musste in einer Akutklinik behandelt werden. Zur anschließenden Reha entschied er sich für einen Aufenthalt im Passauer Wolf Bad Griesbach.
Als wir Ivar Buterfas-Frankenthal und seine Frau Dagmar nur wenige Wochen später dort zum Interview treffen, hat sich sein Zustand seit dem Schlaganfall bereits deutlich verbessert. Geblieben sind Schlafstörungen und ein Taubheitsgefühl im Finger. Durch gezielte ergotherapeutische Maßnahmen wird seine Hand im Passauer Wolf Reha-Zentrum Bad Griesbach wieder funktionstüchtig gemacht. »Ich durfte zum Beispiel einen Korb flechten. Zuerst wusste ich nichts damit anzufangen, aber mittlerweile macht es mir sogar Spaß«, erzählt uns Ivar Buterfas-Frankenthal im Gespräch. »Jede:r Therapeut:in strahlt Kompetenz aus, das gibt mir Vertrauen und hilft mir bei meiner Genesung.« Neben der Ergotherapie erhält er logopädische und psychotherapeutische Hilfe, außerdem steht regelmäßige Physiotherapie auf dem Programm. »Ich hoffe, dass mich die Reha im Passauer Wolf so schnell wie möglich wieder auf die Beine bringt, damit ich bald wieder meine Vorträge als Zeitzeuge halten kann – denn ich habe noch viel vor«, erklärt er in bestimmtem Ton. »In meinem ganzen Leben habe ich nie aufgegeben. Also werde ich auch nach diesem Rückschlag wieder aufstehen und weitermachen.«
MIT NEUER ENERGIE
Und tatsächlich: Die Reha ist erfolgreich. Nur wenige Wochen nach unserem Interview-Termin steht Ivar Buterfas-Frankenthal schon wieder auf einer Bühne vor einem großen Publikum. Mit neuer Kraft berichtet er von seinem ereignisreichen Leben: Von seiner Kindheit als jüdisches Kind im Dritten Reich, von der ständigen Flucht vor den Nazis während des Zweiten Weltkriegs, von der Diskriminierung, auch noch lange nach dem Krieg – und von den Kraftquellen, die ihn das alles haben durchstehen lassen. Die Zuhörer:innen feiern ihn für seinen Vortrag, stehen auf, klatschen und jubeln. Seit seinem Engagement als Zeitzeuge wird Ivar Buterfas-Frankenthal endlich der Respekt zuteil, der ihm jahrzehntelang aufgrund seiner jüdischen Herkunft verwehrt geblieben war. Denn Ivar und Dagmar Buterfas-Frankenthal haben sich von ganz unten – aus einem Leben von der Hand in den Mund – nach oben kämpfen müssen. Daher rührt auch der Titel ihrer aktuellen Biografie, in der sie die Ereignisse ihres Lebens festgehalten haben: »Von ganz, ganz unten«.
VON GANZ UNTEN
Der prägendste Moment seiner Kindheit lässt Ivar Buterfas-Frankenthal bis heute nachts mit Albträumen wach liegen: Es ist das Jahr 1938, Ivar ist sechs Jahre alt und gerade erst seit sechs Wochen eingeschult, als der Leiter der Grundschule in Hamburg-Horn ihn bei einem Fahnenappell nach vorne ruft und ihn – begleitet von den wüsten antisemitischen Beleidigungen der Mitschüler:innen – dauerhaft der Schule verweist. Diese direkte Form der Demütigung aufgrund seiner jüdischen Abstammung hatte er bisher noch nicht erlebt. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er in seinem Leben härter würde kämpfen müssen als andere Menschen. Als ein Jahr später der Zweite Weltkrieg begann, musste Ivar zusammen mit seiner Mutter und den Geschwistern – der Vater war bereits 1933 ins KZ Esterwegen eingewiesen worden – zuerst ins heutige Polen flüchten, später versteckte sich die Familie in einem Schrebergarten in Hamburg und anschließend im Keller eines ausgebombten Hauses. Nach dem Krieg lebte er von Gelegenheitsjobs, schrubbte als 15-Jähriger Süß- wassertanks im Hamburger Hafen und arbeitete als Fliesenleger und Neuheitenverkäufer. Mit 18 Jahren lernte er Dagmar kennen. Die beiden verliebten sich und heirateten nur wenig später. Obwohl sie auch nach dem Krieg lange mit Diskriminierung zu kämpfen hatten – Ivar Buterfas-Frankenthal bekam beispielsweise erst 1961 die Deutsche Staatsangehörigkeit ausgestellt und musste sich bis dahin mit einem Fremdenpass begnü- gen – schafften sie es gemeinsam mit viel Fleiß und harter Arbeit, ein erfolgreiches Bau-Unternehmen in Hamburg auf die Beine zu stellen. Und damit das zu erreichen, was immer ihr größtes Ziel gewesen war: finanziell unabhängig zu sein.
ERFOLGE, DIE BLEIBEN
»Ich sehe es als meine heilige Pflicht, daran mitzuwirken, dass sich die Taten von damals nie mehr wiederholen«, erklärt uns Ivar Buterfas-Frankenthal. Mit den Taten meint er die Gräueltaten der Nazis. 1990, im Alter von 57 Jahren, als das eigene Unternehmen florierte und die finanziellen Mittel es zuließen, begann Ivar Buterfas-Frankenthal deshalb seine Aufklärungsarbeit. Bis heute spricht er vor Schüler:innen, besucht Universitäten und berichtet den jungen Menschen von seinen Erlebnissen. »Es ist unglaublich bereichernd, wenn ich sehe, dass das, was ich zu erzählen habe, auf fruchtbaren Boden fällt. Denn die Kinder von heute sind die Erwachsenen von morgen«, erläutert er. »Diese Veranstaltungen sind für mich jedes Mal ein Befreiungsschlag, mit dem ich meine ständigen Albträume ausblenden kann.« Mit Dagmar an seiner Seite hat er mittlerweile über 1.600 Vorträge gehalten. Seine unermüdliche Arbeit als Zeitzeuge hat einige bedeutende Erfolge hervorgebracht. Als Initiator des 1987 gegründeten Förderkreises »Rettet die Nikolaikirche« trug er einen großen Teil dazu bei, dass die Kirche St. Nikolai in Hamburg heute ein wichtiges Mahnmal für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft zwischen 1933 und 1945 ist. Außerdem setzte er sich unermüdlich für eine Gedenkstätte des Gefangenen- und Straflagers Sandbostel in Niedersachsen ein und gewann dafür unter anderem den damaligen Bundesumweltminister Sigmar Gabriel als Unterstützer. Für sein umfassendes Engagement wurden ihm neben weiteren Auszeichnungen das Bundesverdienstkreuz erster Klasse, die Europäische Menschenrechtsmedaille und die Silberne Verdienstmedaille für treue Dienste am Volke verliehen
DIE KRAFT DER LIEBE
Wie hat es Ivar Buterfas-Frankenthal trotz seiner Vergangenheit geschafft, diesen Erfolgsweg zu bestreiten und sich auch in scheinbar ausweglosen Situationen immer wieder aufzurappeln? Die Antwort geht dem 90-Jährigen ganz leicht von den Lippen: »Meine Frau hat mir immer die Kraft gegeben, die ich brauchte. Jede ehrenamtliche Tätigkeit, alles, was ich geleistet habe, wäre ohne meinen Engel undenkbar gewesen. Ich habe die Projekte ausgeführt, aber sie war oft der Ideengeber und Initiator im Hintergrund.« Seit fast 70 Jahren sind die beiden verheiratet. Was ist ihr Geheimnis? »Man muss den gleichen Humor haben«, findet Dagmar Buterfas-Frankenthal. »Er bringt mich jeden Tag zum Lachen.« Neben Humor sind es für Ivar Buterfas-Frankenthal vor allem die vielen tiefgehenden Gespräche, die sie täglich miteinander führen. »Es gab noch nie einen Tag, der für uns ohne Erfüllung war«, erklärt er. Ihr Leben lang spendeten sie sich gegenseitig die Kraft, die sie für ihre Projekte brauchten, gaben sich Mut und Hoffnung auch in schwierigen Situationen. Beobachtet man die beiden im Umgang miteinander, spürt man eine Vertrautheit, die geprägt ist von einer langen, gemeinsam durchlebten Geschichte voller Höhen, Erfolge, Niederschläge und Herausforderungen. Eine Vertrautheit, die sich auch einmal in Neckereien äußert, dabei aber immer einen tiefen Respekt füreinander durchscheinen lässt.
Bildnachweis: Christoph Götz