Daniel Dehling war gerade Vater geworden, als eine seltene und extrem schmerzhafte Nervenerkrankung zum Ausfall seines Nervensystems und zu einer Totallähmung führte. Auf dem Weg der Genesung galt es für ihn, wieder neu laufen zu lernen: gemeinsam mit seiner Tochter Mathilda.
Es fing ganz harmlos an: Daniel Dehling hatte Rückenschmerzen. Und wie so viele Menschen dachte er sich erst einmal nichts Schlimmes dabei und machte weiter – wie gewohnt: Er ging mit seiner sechs Monate alten Tochter Mathilda spazieren, fuhr morgens in seine Arbeit als Drucktechnologe und in sein geliebtes Tischtennistraining. Doch die Schmerzen ließen nicht nach und wurden gar schlimmer. „Meine Frau Sarah ist Krankenschwester. Sie ließ nicht locker und brachte mich höchstpersönlich zum Orthopäden“, erinnert er sich. Der Arzt äußerste den Verdacht, ein Nerv könne eingeklemmt sein, und verschrieb erst einmal Schmerzmittel: „Doch dann ging es immer schlechter: Meine Hände wurden taub und erste Lähmungserscheinungen verunsicherten uns völlig. Sarah brachte mich mit quietschenden Reifen ins Krankenhaus.“ Dort erfuhr die Familie von seiner schockierenden Diagnose. Und trotzdem hatte er viel Glück im Unglück: Die Ärzte hatten schnell den richtigen Verdacht: GBS, Guillain-Barré-Syndrom (sprich Gilä Baree). Diese seltene Nervenerkrankung ist nicht nur tückisch, sie ist auch perfekt in Sachen Tarnung und wird öfter falsch diagnostiziert.
EIN SCHUTZENGEL AUF DER STATION
Daniel Dehling: „Es muss ein Schutzengel im Amberger Krankenhaus Station gemacht haben: An dem Tag nämlich wurde ein Patient entlassen, der ebenfalls mehrere Monate an Guillain-Barré gelitten hatte.“ Deshalb war die Ärzteschaft auf die Symptome sensibilisiert und eine Lumbalpunktion brachte deren Verdacht an den Tag: Guillain-Barré-Syndrom. Wer an dieser neurologischen Erkrankung leidet, dessen peripheres Nervensystem entzündet sich schmerzhaft. Die Ursachen des Guillain-Barré-Syndroms sind immer noch nicht ganz geklärt. Mediziner vermuten eine Immunreaktion, die für diese Krankheit verantwortlich ist. Das Körperabwehrsystem schießt, ähnlich wie bei einer Allergie, übers Ziel hinaus und schädigt statt z. B. feindliche Zellen, die eigenen peripheren Nerven. Es werden in diesem Fall Antikörper gebildet, die sich auf die Hüllschichten der eigenen Nerven stürzen. Normalerweise ist es diese Umhüllung (Myelinschicht), die die schnelle Reizleitung der Nerven erst möglich macht. Durch die Immunattacke beim Guillain-Barré-Syndrom aber entzündet sich diese Isolierschicht, wird teilweise zerstört und die Leitung bricht sozusagen ab. Oft muss sie dann erst nachwachsen. Der Impuls kann nicht mehr übermittelt werden, es entstehen Lähmungserscheinungen, bis hin zur Gesichts- und Atemlähmung.
»GEMEINSAM SCHREITEN WIR IN DIE ZUKUNFT, DU, DEINE MAMA SARAH UND ICH. NOCH EIN WENIG UNSICHER, ABER JEDER SCHRITT WIRD FESTER.«
-Daniel Dehling

ICH WOLLTE SCHREIEN VOR SCHMERZ
Meist geschieht dies im Anschluss an Infektionen oder Impfungen. Daniel Dehling: „Und dazu kommen brennende, tosende Schmerzen. Innerhalb von drei Tagen war ich komplett gelähmt, mein Gesicht war ein unbeweglicher Klotz, und ich hatte solche Schmerzen, dass ich ständig hätte schreien können. Aber ich konnte nicht, ich konnte nichts an meinem Körper bewegen, rein gar nichts tun.“ Nach drei Tagen hatte sich Daniel Dehlings Zustand so dramatisch verschlechtert, dass er auf die Intensivstation verlegt und beatmet werden musste. Dann aber schlug endlich die Dialyse an, die siebte am Stück: „Ich hatte immer noch unfassbare Schmerzen, selbst die Stellen, auf denen ich lag, also die das Bettlaken berührten, brannten wie Höllenfeuer, alleine vom Kontakt mit dem Stoff.“ In der Zwischenzeit saß Daniels Ehefrau Sarah mit der kleinen Mathilda alleine daheim und war krank vor Sorge: „Ich war auf das Schlimmste gefasst.“
ANGST, DASS ER NIE MEHR DER ALTE WÜRDE
Beispielsweise darauf, dass er nie mehr gesund würde oder vielleicht berufsunfähig ist. Daniel Dehling jedoch hatte sich scheinbar dazu entschlossen, als medizinisches Wunder in die Annalen des Krankenhauses einzugehen. Seine Heilung schritt unfassbar schnell voran: „Ich habe im Nachhinein erfahren, dass fünf bis zehn Prozent der am Guillain-Barré-Syndrom Erkrankten sterben. Ein Patient lag nach acht Monaten immer noch flach, in einem Wasserbett. Ich weiß nicht, woher ich die Zuversicht nahm, aber ich war stets sicher, dass die Krankheit geheilt wird. Ich hinterfragte niemals meine positive Zukunft und wollte nur eines: Mein Kind wieder tragen, füttern und wickeln können. Ich wollte eher wieder laufen können, als sie es lernen würde.“ Daniel Dehling hatte Recht behalten: Nach weniger als vier Wochen war er aus dem Krankenhaus und nach einem dreiwöchigen Aufenthalt in der Frühreha in Erlangen kam er in den Passauer Wolf nach Nittenau. Dort ging die Geschichte seiner unfassbaren Fortschritte weiter. „Ich war angenehm überrascht vom Passauer Wolf, mir schien das Ganze eher wie ein Hotel als wie eine Klinik. Dazu war das Personal so freundlich, und erlaubte uns sogar, in einer spontanen Aktion auf dem kurzen Dienstweg, zusammen dort Weihnachten zu feiern. Unser erstes Weihnachten zu dritt. Es hätte mir das Herz gebrochen, wenn ich das ohne meine Lieben hätte verbringen müssen.“ Bereits fünf Wochen nach dem Ausbruch der Krankheit schaffte er es, Mathilda zum ersten Mal wieder zu wickeln: „Mir lief der Schweiß in Strömen runter. Aber fünf Wochen nach dem Ausbruch! Da liegen die meisten Patienten noch an der Beatmungsmaschine.“ Auch hatte er ein festes Ziel:
IM ROLLSTUHL REIN, ZU FUSS WIEDER RAUS
„Ich kam im Rollstuhl rein und wollte nach sechs Wochen auf meinen eigenen Beinen wieder herausgehen. Bevor Mathilda laufen kann.“ Sarah und Mathilda kamen sehr oft nach Nittenau, Mathilda trainierte auf Papis Schoß an den Kraftmaschinen und sie wurde bald zum Sonnenschein aller dort. Daniel Dehling: „Die Pflegekräfte waren so liebevoll. Wie sie mit uns, aber auch wie sie miteinander umgehen und Hand in Hand arbeiten. Kleine Wünsche werden den Patienten sofort erfüllt.“ Ab da nahm sich Daniel Dehling wöchentlich ein neues Ziel vor. Er übte fleißig die physiotherapeutischen, logopädischen und kognitiven Trainingsaufgaben, machte Qi Gong und Belastungstraining: „Dank der Therapeuten konnte ich schon nach dem dritten Tag beim Passauer Wolf am Rollator laufen. Es dauerte nicht lange, und ich konnte ein paar Schritte ohne Gehhilfe gehen.“ Nach sechs Wochen hatte er es wirklich geschafft: Er konnte auf eigenen Beinen die Klinik verlassen. Und hatte damit knapp den Wettlauf mit seiner Tochter Mathilda gewonnen: Sie begann erst einen Monat später, mit neun Monaten, auf ihren eigenen kleinen Beinchen ganz alleine zu gehen.
Bildrechte: Birgid Allig