In den letzten Jahren haben Vokalchöre eine wahre Renaissance erlebt. Ob jung oder alt, die Menschen singen wieder. Denn das Schwingen im Gleichklang befreit von Alltagssorgen, machtglücklich und gelöst. Doch auch die medizinischen Aspekte des Singens sind durchaus beachtenswert …
Sie heißen »Volxgesang«, »Jeder kann singen« oder »Hamburg singt«: Die Zahl der Laienchöre ist seit einigen Jahren sprunghaft gestiegen. Längst ist das Chorsingen von seinem spießigen Image befreit– vor allem die Sängerfeste, bei denen sich Tausende gesangsfreudiger Vokalisten treffen, sind heute Kult. So sammeln sich Jahr für Jahr um die 28.000 Menschen im Freilichtmuseum Skansen in Stockholm, um frohgestimmt den Mitsommer zu besingen. Ganze acht Tage lang wird dieses rauschhafte Amateur-Sängerfest vom schwedischen Fernsehen ausgestrahlt– bei einer Zuschauerbeteiligung von bis zu 2,5 Millionen Menschen! Doch auch in Deutschland gibt es inzwischen einen Boom der Vokalchöre: Seit im Jahr 2003 der Berliner Rundfunkchor unter Chefdirigent Simon Haley ein Pilotprojekt startete, bei dem Laien mit Profisängern gemeinsam verschiedene A-Capella-Werkeerarbeiteten, sind Mitsingkonzerte zum alljährlichen Großevent geworden. Und: Sie haben viele Nachahmer gefunden. Mitgetragen vom Klang, vom gemeinsamen Ton, mit oder ohne Orchester, geführt von Profis oder auch nicht –die Menschen in Deutschland singen wieder. Die Kenntnis von Noten, die musikalische Erfahrung sind dabei oft zweitrangig. Heute trauen sich auch viele »unmusikalische« Menschen aufs Podium, und dies mit wachsender Begeisterung. Was zählt, ist der Spaß, die Begeisterung, die Gemeinsamkeit.
DIE KRAFT DES ATEMS
Dass das Singen einen wunderbaren Nebeneffekt hat, ist dabei den wenigsten bewusst. Längst hat nämlich, die medizinische Forschung bestätigt, was schon Aristoteles wusste, der Musik und insbesondere dem Gesang eine »reinigende Wirkung« zuschrieb: Singen ist in physiologischer Hinsicht ebenso gesund wie Sport. Es verlängert auf lustvolle Art das Ausatmen, wobei, bedingt durch die musikalischen Vorgaben, automatisch in die tiefer gelegene Bauchregion geatmet wird. Dadurch verbessert sich die Beweglichkeit der Atemmuskulatur; auch die unteren Teile der Lunge werden stärker belüftet. Das Herz wird entlastet, die Sauerstoffsättigung im Blut erhöht, der Kreislauf kommt in Schwung. Auch das Gehirn wird durch die Tiefenatmung besser durchblutet – Singen ist gut für das Gedächtnis, die Konzentration. Gleichzeitig werden die Organe der Bauchregion stimuliert, die Darmtätigkeit, ja, der gesamte Stoffwechsel wird auf natürliche Weise angeregt. Doch tatsächlich sind diese unmittelbaren physiologischen Wirkungen nur ein Aspekt des gemeinsamen Musizierens. Fast wichtiger scheint der psychologische Effekt zu sein: Singen macht einfach glücklich.
»Es schwinden jedes Kummers Falten, solang des Liedes Zauber walten.«
Friedrich von Schiller
AKTIVES WOHLFÜHLHORMON
Wie dieses Glück zustande kommt, das wollte die Entertainerin Anke Engelke genau wissen. In einer großangelegten Studie forschte sie gemeinsam mit dem Musikwissenschaftler Gunter Kreutz nach den Glücksparametern beim Chorsingen. In einem Aufruf luden sie Menschen zum Vorsingen für einen Chor ein, bei dem das wichtigste Kriterium nicht die Musikalität, sondern die persönliche Befindlichkeit war. Aufnahme zu den wöchentlichen Chorproben fanden die, die sich vom Schicksal nicht gerade begünstigt fühlten: So entstand der »Chor der Muffeligen«. Vor und nach jeder Probe füllten die Mitglieder psychologische Fragebögen aus und gaben Speichelproben ab. In diesen Speichelproben wurde die Konzentration des Hormons Oxytocingem essen. Oxytocin gilt als das »Kuschelhormon«, da es für eine starke soziale Bindung sorgt und stress- und angstlösende Wirkung hat; außerdem steht es in Wechselwirkung mit dem Glücks-Botenstoff Serotonin. Das Ergebnis war frappierend: Die Konzentration dieses Wohlfühlhormons hatte sich jeweils nach den Chorproben um ein Vielfaches erhöht. Doch um einen Vergleichswert zu haben, ließ Kreutz die Chorsänger während einer Probe lediglich gemeinsam sprechen. Auch hier stieg der Oyxcotinwert, jedoch sehr viel weniger.
»Musik und Rhythmus finden ihren Weg zu den geheimsten Plätzen der Seele.«
Platon

MUSIK HILFT HEILEN
Auch andere wissenschaftliche Studien bestätigen den hohen Glücksfaktor beim Singen. So konnte ein eklatanter Abfall des Stresshormons Cortisol nach gemeinsamen Proben nachgewiesen werden. Dies wiederum wirkt sich positiv auf das Immunsystem aus, das durch jede Art des Musikmachens gestärkt wird. Doch Musik kann nicht nur stärken, den Selbstausdruck fördern und die Seele zum Klingen bringen, Musik kann auch heilen. Die diplomiert Musiktherapeutin Dorothea Müller, die in Regensburg die Praxis »im Puls« führt, weiß davon im wahrsten Sinne ein Lied zu singen. Regelmäßig besucht sie Patienten des Krankenhauses Barmherzige Brüder. Mit Klängen und gesungenen Liedern gelingt es ihr oft, Zugang zu Menschen zu finden, die auf verbale Kommunikation noch nicht ansprechen. »Besonders beeindruckt hat mich ein Schlaganfall-Patient, der zwar nicht mehr sprechen konnte, aber beim Singen von Liedern laut hörbar in die Melodie einstimmen und sogar verstehbar artikulieren konnte«, berichtet sie. Was die Musiktherapeutin erzählt, ist kein Einzelfall. Viele Menschen, die nach einem Schlaganfall unter Sprachstörungen leiden, können noch singen, selbst mit Text. Daraus wurde die MIT-Therapie (Musical Intonation Therapy) entwickelt, deren Wirkung andere amerikanischen Harvard University erstmals systematisch untersucht wurde und große Erfolge verzeichnet. Denn Musik aktiviert nicht nur ein eng umrissenes Hirnareal, sondern spricht auch den Bewegungsapparat, das Gefühl und Gedächtnis an. Gezielt wird nun beider MIT-Therapie durch gemeinsames Singen und Intonieren bei gleichzeitigem Rhythmusklatschen der Hände die Wiederherstellung der geschädigten Hirnregionen stimuliert und damit die Fähigkeit angeregt, neue Verknüpfungen im Gehirn zu schaffen. Singen: Das ist wie eine Glücksdroge, die uns in Schwingung versetzt. Ein Weg, um den Stress loszuwerden und ins Gleichgewicht zu kommen. Wer singt, der spürt den Puls des Lebens – in sich und ganz nah mit andern.
Bildnachweise: Adobestock/Gerhard Seybert, Adobestock/Rudie