Ich bin ein Einzelkind. Ich weiß, meine beiden Brüder hören das nicht gerne. Aber sie waren halt wesentlich jünger als ich. Und so musste ich als ältestes Exemplar unseres Fortpflanzungsrudels mühsam sämtliche Tü- ren innerhalb des in unserem Haus vorherrschenden Erziehungsregiments öffnen, durch welche meine Geschwister Jahre später lässig pfeifend einfach hindurch spazierten. Ein typisches Schicksal von Erstgeborenen.
Meiner Vorbildfunktion treu dienend, habe ich freilich bis zum Schulabschluss jede Klasse auf Anhieb geschafft. Erst später wurde mir klar, dass die anderen, die zweimal sitzen geblieben waren, in derselben Zeit dreimal so viele Kinder kennengelernt haben als ich. Und sie hatten wahrscheinlich schon damals eine viel ausgeglichenere School-Life-Balance.
Seitdem versuche ich das Leben an möglichst vielen Zipfeln meines Daseins selber ins Gleichgewicht zu bringen. Gesundheitstechnisch bin ich in der Lage, am Vortag jeweils nur so viel Alkohol zu trinken, dass ich am darauffolgenden Morgen ohne rezeptpflichtige Antischädelweh-Mittel über die Runden komme. Mein Ernährungs-Gleichgewicht besteht darin, dass mir mein Gewicht grundsätzlich gleich ist, ganz gleich, wie mein Gewicht ist.
Ich habe gelesen, körperliches Ungleichgewicht entsteht heutzutage oft dadurch, dass ein großer Teil unseres Lebens im Sitzen erfolgt. Um dem entgegen zu wirken, bemühe ich mich seither, mindestens die gleiche Zeit ganz bewusst im Liegen zu verbringen. Und dass ein optimales Beziehungsgleichgewicht nicht darin besteht, die Anzahl von Haupt- und Nebenfrauen auf einem möglichst einheitlichen Niveau zu halten, durfte ich anhand akuter Nahverlassenheitserfahrungen bereits in jungen Jahren auf schmerzvolle Weise lernen.
Im Moment beschäftige ich mich vorwiegend mit meiner persönlichen Work-Life-Balance. Das macht man heute so. Seitdem einer festgestellt hat, dass Arbeit und Leben nichts miteinander zu tun haben. Ich hoffe, der große Weltgeist ist einst so gnädig und rechnet mir meine Arbeitszeit nicht als Lebenszeit an und ich bekomme bei abgelaufener Erden-Uhr meine so erwirtschafteten »Überstunden« als Zusatzzeit gutgeschrieben.
Über mein familiäres Gleichgewicht muss ich mir wohl keine weiteren Gedanken machen. Mein ältester Sohn hat jede Schulklasse auf Anhieb geschafft. Bei seinen beiden jüngeren Geschwistern muss ich manchmal nachsehen, wie sie heißen, aber ihr lässiges Pfeifen gibt mir täglich das gute Gefühl, dass alles in bester Balance zu sein scheint.
Ihr Stefan Wählt
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