Ich bin 1964 geboren. Ich habe neulich mit großer Sorge gelesen, dass die Antibabypille bei uns auf dem Land erst ein paar Jahre später eingeführt wurde. Jetzt kann es also sein, dass ich nur deshalb auf der Welt bin, weil man gegen mich noch kein geeignetes Medikament erwerben konnte. Ich wünsche mir dennoch, ein Wunschkind gewesen zu sein. Ein »Öha«-Kind war ich ohnehin. Schließlich wusste man damals nichts weiter, als dass meine Mama schwanger war, und so war das erste, was mein Vater nach Vollendung meines Schlüpfvorgangs ausrief: »Öha!« Eine echte Kinderüberraschung.
Das ist heute freilich anders. Mittlerweile kann man bereits in der ersten Schwangerschaftswoche am Achselschweiß des Vaters und am Ohrenschmalz der Mutter feststellen, dass das zu erwartende Kind in der achten Klasse wegen Erdkunde sitzen bleibt. Das sind jene Kinder, deren Väter vor den Babybäuchen ihrer Frauen sitzen und ihren ungeborenen Nachkömmlingen präventiv aus dem Weltatlas vorlesen. Wenn der Nachwuchs später in der neunten Klasse wegen Chemie oder Englisch sitzen bleibt, wissen die Eltern spätestens, dass sie alles richtig gemacht haben.
So begegnet man als Fortgepflänz von heute schon während der Kindheit vielen modernen Errungenschaften. Während es zu meiner Aufzucht nur zwei Uhrzeiten gab, nämlich hell und dunkel, wobei wir bei dunkel zuhause sein mussten und es bei hell Dinge gab, bei denen es für unsere Eltern mit Sicherheit gesünder war, nichts davon gewusst zu haben, gibt es heute eine Tracking-App. So kann erzeugerseits der Standort des Erzeugnisses jederzeit genauestens geortet werden. So ist es möglich, dass bei Annäherung an die Wohnadresse ein Meldeabstand festgelegt wird, an dem die Mikrowelle einzuschalten ist, damit der Chickenburger bei Erreichen des Zielorts für den Nachwuchs bereits in optimaler Verzehrwärme auf dem Esstisch steht.
Selbst wenn die Kinder einst das Haus verlassen, müssen wir uns um sie keine Sorgen mehr machen. Werden sie doch von Siri und Alexa bezüglich der wichtigsten Fragen des Lebens bis ins hohe Alter begleitet und auf YouTube genauso bildreich wie lückenlos darüber aufgeklärt, wie man beispielsweise die Erträge beim Nasenbohren optimiert und welche Garderobenteile man vorher abstreifen muss, damit man nicht in die Hose pinkelt.
Das Auto wird eines Tages von selber fahren. Der Kühlschrank wird sich künftig automatisch füllen, sobald unser Tiefspülklosett die aktuellen Urin-Analysewerte zur optimalen Lebensmittelversorgung an die zentrale Ernährungs- und Gesundheitsbehörde gemeldet hat. Selbst die Wiederauferstehung wird voraussichtlich in naher Zukunft digital erfolgen, gegebenenfalls mit entsprechenden Frühbucher-Rabatten. Sollte sich am Ende doch die Wiedergeburt als gängige Glaubenspraxis durchgesetzt haben, würde ich mir freilich wünschen, auch dann wieder ein Wunschkind sein zu dürfen.
Ihr Stefan Wählt
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