»Ein Indianer kennt keinen Schmerz.« Mit dieser zugegebenermaßen schwer überprüfbaren Weisheit hat es mein Vater von meinen frühesten aufgeschürften Kindesbeinen an geschafft, das tränenreiche Klagegezeter seines Sprosses nach vielfältigsten jugendlichen Alltagsverwundungen auf ein Minimum zu reduzieren. Irgendetwas war ja auch dran. Was die Fernsehwestern während meiner Frühaufzucht betrifft, meine ich mich zu erinnern, dass von Bleichgesichtern getroffene Komantschen stets lautlos vom Pferd fielen, während im Wagentreck umzingelte Cowboys minutenlang schwer ächzend und ein letztes Mal die Liebste grüßend mit einem Pfeil in der Brust ihrem letzten Atemzug und dem damit verbundenen viel zu frühen Ableben entgegenstöhnten.
Was mir mein Vater allerdings verschwieg: Wir waren gar keine Indianer. Selbst in meinem Stammbaum, dessen Fährten sich eher gen Osten nach Niederbayern und Oberschlesien schlängeln, scheint die Wahrscheinlichkeit eher gering, dort auf einen versprengten Sioux oder Apatschen zu treffen. So habe ich womöglich völlig zu Unrecht jahrzehntelang herkunftsbedingt absolut zulässiges Gejammer und mir eigentlich zustehendes Wehgeschrei unterdrückt. Und so war der Weg vom vermeintlichen Indianer zum wissenschaftlich anerkannten Hypochonder wohl auch nicht sehr weit. Und wohl genau deshalb stecke ich heute in meiner Elendsendlosschleife fest. Wenn ich nichts habe, dann fehlt mir was. Und wenn mir nichts fehlt, dann habe ich was. Und wenn ich nichts habe und mir nichts fehlt, denke ich, was fehlt mir eigentlich, dass ich nichts habe und dann krieg ich was. So habe ich mich von dem Indianer, der ich nie war, heute bereits deutlich und schmerzhaftweit entfernt.
Vielleicht hatten die Indianer damals einfach kein Internet, um herauszufinden, was ihnen alles weh tun hätte können. Tatsächlich habe ich auch noch nie davon gehört, dass Sitting Bull oder Winnetou wegen einer Bindehautentzündung zur Computertomographie gemusst hätten.
Ich bin durchaus froh, heute Internet zu haben. Da kann ich mich grundsätzlich frisch aufgegoogelt ins Wartezimmer setzen und meinem Hausarzt bereits drei Krankheiten zur Auswahl vorschlagen, noch ehe er mich nach meinen Beschwerden fragt. Und kurz bevor ich meine unvermeidliche Spritze bekomme, weist er mich jedes Mal darauf hin, dass es gleich piekst. »Kein Problem,« sage ich, »ein Indianer kennt keinen Schmerz.«
Ihr Stefan Wählt
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