WELTMEISTER UND WANDLUNGSKÜNSTLER
Er ist ehrenamtlicher Zauberer, mehrfacher Sieger deutscher MTB-Meisterschaften, sogar Weltmeister, und einer, der weiß, wie man es von 0 auf 100 schafft – auch nach Rückschlägen. Wir besuchen Gerhard Kanehl nach seiner neurologischen Reha im Passauer Wolf Nittenau zu Hause in Amberg. Zahlreiche Medaillen im Wohnzimmer erinnern an über 50 Jahre Erfolg – Errungenschaften aus unzähligen Rennen mit dem
Motorrad, dem Auto, dem Rennrad, dem Mountainbike. Und es zeigt sich an allen Ecken, was er heute als Zauberer »Kanini« in die Trickkiste packt. Zylinder, Tücher, Blumen. Dass Gerhard Kanehl mit 81 Jahren seiner heutigen Leidenschaft und zweiten Karriere, der Zauberei, nachgehen kann, grenzt schon an Magie. Denn mehrere Unfälle und Schicksalsschläge hätten dies fast verhindert. Zuletzt brachten ihn plötzliche Schwindelattacken in seiner Wohnung zu Fall, und bremsten ihn kurzfristig aus. Kurzfristig, denn auch seinen Genesungsweg macht er zur Rennstrecke. Dass man sich von Gerhard Kanehl etwas abschauen kann, weiß auch sein Behandlerteam. »Herr Kanehl kam nach einer Operation an der Halswirbelsäule zu uns, nachdem durch eine Einengung des Wirbelsäulenkanals und Druck auf die Nervenstrukturen eine Lähmung des linken Armes und Gangunsicherheit eingetreten waren«, erzählt der Ärztliche Direktor und Chefarzt der Neurologie und Geriatrie im Passauer Wolf Nittenau, Stephan Graeber. »Um nach so einschneidenden Funktionsstörungen die Selbständigkeit zu behalten, bedarf es schon einer Kämpfernatur. Man merkt, dass Herr Kanehl Wettkampfsituationen gewohnt ist.« Gerhard Kanehl hangelt sich immer wieder mutig und mit eisernem Willen nach oben. Wie, verrät er: »Ich habe mir immer gesagt: Nicht nachgeben. Das packe ich alles.« Und das musste sich Gerhard Kanehl oft sagen, denn es ist nicht das erste Leben, das er lebt. Es ist mindestens das Dritte.
WENN ICH GROSS BIN
Im ostpreußischen Königsberg geboren, wächst Gerhard Kanehl ohne Eltern auf. Seine Mutter, Hausdame bei einem jüdischen Gutsbesitzer, gibt ihn weg. Die Affäre der beiden sollte verschwiegen werden. Dass in seiner Geburtsurkunde der Name seines Vaters nicht auftaucht, rettete ihm das Leben. Der Nachweis seiner jüdischen Wurzeln hätte für ihn das Todesurteil bedeutet. Seine Großmutter Emma nimmt ihn später auf. Mit ihr flüchtete er 1945. Wieder wurde ihm ein Leben geschenkt, denn sie landen für die Überquerung der Ostsee mit Glück nicht wie vorgesehen auf dem Flüchtlingsschiff »Wilhelm Gustloff«, das torpediert wurde und unterging. Heimat fand Gerhard Kanehl in Amberg.
Auf dem Mariahilfberg, dem höchsten Punkt der Stadt, zeichnet sich schon früh sein weiterer Lebensweg ab. Denn von der Kirche aus, auf dem Hügel, fährt er bereits mit zehn Jahren die ersten Fahrradrennen mit seinen Schulkameraden, darunter der Sohn eines Rennfahrers, Rudolf Barth. 1952 wurden Hillebrand und Barth Motorrad-Weltmeister in der Beiwagenklasse. Als Kinder halfen sie den Idolen Holz schleppen, zum Heizen im Café Bauer in Amberg. Als Dank gab es Kaffee und Kuchen und Rennfahrerbilder zu sehen. »Da habe ich zu mir gesagt: ›Wenn ich groß bin, erlerne ich diesen Beruf, und fahre Motorradrennen‹«, erinnert sich Gerhard Kanehl.
Meine Devise war nicht das Gewinnen, sondern die Welt zu sehen und alles zu erleben.
DRUCK HATTE ICH NICHT
Zunächst mal lernte er Zweirad- und Kfz-Mechaniker. Auf die Fahrradrennen folgten die ersten Motorrad- und Autorennen. Wieder war es die Großmutter, die ihm weiterhalf. Sie gab ihm 1.000 Mark für die erste Geländerennmaschine. Der Begeisterung für Tempo ging Gerhard Kanehl nicht nur in seiner Freizeit nach. Er eröffnete nach seiner Kfz-Meisterprüfung seinen eigenen Motorradladen in Neumarkt, den er 31 Jahre lang führte. »1973 kam der japanische Motorradtrend auf. Aus allen Ecken kamen sie damals, die Motorradfahrer«, erinnert sich Gerhard Kanehl. Die Arbeit ermöglichte ihm die Motorradrennen. Geld war nie sein Antrieb. »Da hat es vielleicht mal ein paar Zündkerzen als Gewinn gegeben, oder einen Reifen.« In Polen und Tschechien waren Rennfahrer angesehen. »Wir haben mehrere Tage gelebt wie die Götter«, schmunzelt er. »Erster zu sein war nicht mein Ding. Mein Gedanke war der: Jetzt gehst du an den Start, fährst brav rum, kommst gesund ans Ziel, weil du willst ja abends auch noch was erleben. Ich bin da lässig hingegangen. Druck hatte ich nicht.«
ZWEI UNFÄLLE UND EIN TAG, DER ALLES ÄNDERT
Und dann folgten zwei Unfälle, die Gerhard Kanehl erstmal aus dem Verkehr zogen. Ein betrunkener Autofahrer fuhr ihn auf dem Weg zur Arbeit vom Moped – mit schweren Folgen. Fast hätte er ein Bein verloren. Und ein weiterer Unfall veränderte sein Leben einschneidend. Es war der 7. Juni 1982. Auf der Isle of Man in England ging es um die Tourist Trophy. Das Rennen fand zum 75. Mal statt. Bei 200 km/h touchiert der Brite Mick Grant Gerhard Kanehl von hinten und bringt ihn zu Fall. Gerhard Kanehl ist bewusstlos, wird auf der Strecke reanimiert. Er liegt mehrere Monate im Koma mit schwerem Schädelhirntrauma, Schädelfraktur und organischem Durchgangssyndrom, Schulterblatttrümmerbruch, Rippenserienbruch. Ein Helikopter brachte ihn ins Heimat-Krankenhaus nach Neumarkt. Ein langes Ringen um die Gesundheit beginnt. »Ich musste neu lesen und schreiben lernen.« Und auch privat scheint alles Kopf zu stehen. Nach dem Unfall scheitert die Ehe mit seiner Frau Ursula nach 18 Jahren.

Ich war schlechter beieinander als Michael Schumacher.
NEUER FAHRTWIND
»Ich bereue es nicht, an diesem Tag damals gestartet zu sein. Es war ganz gut, dass ich das erlebt habe«, sagt Gerhard Kanehl heute über diesen einen Tag, der ihn lange Zeit außer Gefecht setzte. »Das hat mir so viel ermöglicht.« Sobald es ging, startete er erneut, diesmal auch mit dem E-Kart. 1987 wird er Formel E Europa Cup Sieger. Angst hatte Gerhard Kanehl nie. Er schwingt sich wieder aufs Fahrrad. 2000 wird er Handicap-MTB Weltmeister in Saalbach-Hinterglemm. Sein Privatleben nimmt auch wieder Fahrt auf. Mit 54 lernt er beim Tanzen eine wichtige Wegbegleiterin kennen. Die damals 74-jährige Ruth ist 17 Jahre lang an seiner Seite. »Wir sind in der ganzen Welt herumgegeistert. Zypern, Gibraltar, Island. Island war für mich das tollste Erlebnis. Die Leute mit ihren Trachten, die Pferde, die Geysire.«
HEUTE BIN ICH VORSICHTIGER GEWORDEN
Heute schaltet Gerhard Kanehl einen Gang zurück. »Dafür bin ich auf die Zauberei gekommen.« Ein Kunde in seinem Motorradladen erzählte ihm, er sei Zauberer, verriet ihm allerdings keine seiner Tricks, sondern schickte ihn in einen Zauberladen. »Wenn du das Zauberset kaufst, zeig ich dir wie es geht«, sagte ihm der Ladenbesitzer. So ging es los. Zauberlehrgänge folgten, und am Bamberger Zauberfestival war Gerhard Kanehl gerne zugegen. »Dass Herr Kanehl vorsichtiger wurde, ist eine gute Idee«, meint auch Chefarzt Stephan Graeber. Während der Rehabilitation lernt er im Gangtraining wieder bewusster einen Schritt vor den nächsten zu setzen und baut in der Medizinischen Trainingstherapie Kraft auf. Die physiotherapeutischen Behandlungen und Funktionsgymnastik stärken ihn soweit, dass die Sturzgefahr reduziert werden kann. Auch die Arm- und Handfunktion hat sich deutlich verbessert. Für das selbstbestimmte Leben in der gewohnten Umgebung geben ihm die Ergotherapeuten Tipps und trainieren mit ihm Alltagsaktivitäten. Darunter fällt für ihn natürlich die Zauberei. Davon hatten auch seine Mitpatienten was, denn auch während der Reha wurden Blumensträuße hervor und Lächeln auf die Lippen gezaubert.
MICH HAT ALLES FASZINIERT
»Ich habe alles gemacht, was man machen kann, aber am meisten bin ich darauf stolz, dass ich ohne Mutter und Vater glücklich aufgewachsen bin«, sagt Gerhard Kanehl rückblickend. Die Großmutter, die so viel für ihn geopfert hat, ist bei ihm geblieben bis zuletzt. Heute lebt er mit seiner Lebensgefährtin Hilde zusammen, für die er schon mehrfach Lebensretter war. Ein Traum ist noch offen im Leben von Gerhard Kanehl. In einem Düsenjet mitzufliegen. »Das fehlt mir noch in meinem Leben«, erzählt er lächelnd. Vielleicht schaff ich’s noch, auch wenn ich schon viel gedüst bin auf dieser Welt.«


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