Dass Maria Albrecht einmal so sehr um ihre Selbstständigkeit würde ringen müssen, hätte sie noch vor ein paar Jahren nicht für möglich gehalten. Was man mit unerschütterlicher Willensstärke erreichen kann, wohl auch nicht.
DIESER EINE TAG IM MAI
Das Auto ist vor dem Supermarkt geparkt, der Motor abgestellt, die Tür geöffnet. Es ist ein ganz normaler Nachmittag für Maria Albrecht, ein ganz normaler Tag Ende Mai 2019. Noch schnell zum Einkaufen, bevor der Alltag für die 63-Jährige seinen Lauf nimmt. Aber der alltägliche Ablauf ändert sich, als sie versucht, aus dem Auto zu steigen, und merkt, dass ihre Füße den Boden gefühlt nicht erreichen. Sie fällt aus dem Auto statt auszusteigen. »Es waren vielleicht zwei, drei Sekunden, in denen ich meine Füße nicht mehr spürte, keinen Boden unter den Füßen hatte.« Aber genau dort findet sich Maria Albrecht wieder. Auf dem Parkplatzboden, nur nicht mit den Füßen, sondern mit dem ganzen Körper. Ein Passant hilft ihr auf. Sie kann wieder stehen, aber der Schock sitzt tief. Sofort steigt sie zurück ins Auto und fährt zu ihrem Hausarzt. Mühelos schafft sie es ins erste Stockwerk.
KERNGESUND – ODER DOCH NICHT?
Der Hausarzt lässt ein MRT anfertigen und überweist sie zum Neurologen. »Kerngesund«, bescheinigt der Neurologe. Das MRT ist völlig unauffällig. Maria Albrecht wiegt sich in Sicherheit, ist froh. »Ich habe meinen Alltag wieder gelebt.« Sie arbeitet halbtags in der Bäckerei, ist immer auf den Beinen. Gemeinsam mit ihrem Mann kümmert sie sich um den Sohn ihrer alleinerziehenden Tochter, insgesamt hat sie zwei Enkel, drei Kinder. Maria Albrecht verköstigt die Mitwirkenden auf der Baustelle ihres jüngsten Sohnes. »Ich hatte keine Schmerzen. Ich habe den Rasen gemäht, das Haus geputzt, bin mit meinem Enkel spazieren gegangen.« Dann ist es wieder da, dieses Gefühl den Boden zu verlieren, diesmal im Flur. Wieder sackt sie zusammen. Und wieder sucht Maria Albrecht ihren Hausarzt auf. Dieser reagiert und überweist sie ins Krankenhaus mit neurologischer Fachabteilung. Er bleibt energisch, besteht auf die stationäre Aufnahme in der Klinik. »Frau Albrecht, Sie haben etwas Schlimmes«, sagt er ihr und lässt nicht locker. Es folgen reihenweise Untersuchungen.
ICH KONNTE NICHTS MEHR
Das Blut wird unter die Lupe genommen, die Liquordiagnostik soll Aufschluss über Entzündungsprozesse in Gehirn und Rückenmark geben. Nach dem dritten Tag erhält sie Cortison. Weitere MRT-Aufnahmen und die Ergebnisse der Diagnostik lassen den Verdacht zu, dass etwas am Rückenmark nicht in Ordnung ist. »Mein Zustand wurde schlechter. Kurz nach der Aufnahme in der Klinik, in die ich verlegt wurde, rief meine Tochter an. ›Mir geht es gar nicht gut‹, sagte ich. Meine Tochter kennt mich in- und auswendig. Sie wusste: Da stimmt etwas nicht.« Gemeinsam mit ihrem Bruder fährt die Tochter in die Klinik. Beide erschrecken beim Anblick der Mutter und holen einen Arzt hinzu. »Ich saß im Rollstuhl, hatte blaue Lippen und rot unterlaufene Augen.« Und dann geht alles ganz schnell. Maria Albrecht wird auf die Intensivstation verlegt, die Lunge wird abgesaugt, sie wird in ein künstliches Koma versetzt. Drei Tage schwebt sie in Lebensgefahr. Als sie nach sieben Wochen aufwacht, hat sie ein Tracheostoma angelegt, wird künstlich ernährt, kann weder schreiben noch lesen. »Ja, eigentlich konnte ich nichts mehr«, sagt sie. Die Familie gibt ihr Auftrieb. »Ich hab’ das gespürt«, erzählt sie, »dass meine Familie da war, mein Mann, meine Mama, meine Schwestern, meine Kinder. Ich habe einfach die Wärme gespürt. Immer, wirklich immer stand meine Familie hinter mir.« Das hilft ihr, sich durch nichts entmutigen zu lassen, auch nicht von Prognosen der Ärzte. »Außer meinem großen Zeh konnte ich seinerzeit nichts bewegen.« Der Arzt auf der Intensivstation, der während der Visite die Beine von Frau Albrecht untersucht, sagt zu seinem ärztlichen Kollegen: »Ich befürchte, diese Patientin wird nie wieder gehen können.« Für Maria Albrecht steht es allerdings außer Frage, dass sie wieder gehen können wird. »Ich bin hart im Nehmen, ein Stehaufmännchen. Ich hab’ mir gedacht: Dir zeig ich’s. Du täuschst dich. Eines Tages kann ich wieder gehen.«
DIAGNOSE UNKLAR
Bis heute bleibt eine exakte Diagnose für die Querschnittslähmung von Maria Albrecht aus. Eine Myelitis, eine Rückenmarksentzündung, scheint der Grund für die Lähmungserscheinungen zu sein. Wodurch diese ausgelöst wurde, bleibt unklar. »Das ist das Schlimme bei mir. Ich weiß bis heute nicht genau, was ich habe und wo das herkommt.«
Meine Familie stand immer hinter mir
DIE ERSTEN 100 METER
Die Kurzzeit-Reha in München ist nach der langen Zeit in der Klinik der erste wichtige Schritt in Richtung Selbstständigkeit. Sie lernt wieder zu essen, das Tracheostoma wird entfernt. Die Feinmotorik wird geschult. Im Anschluss geht es für Maria Albrecht in den Passauer Wolf Bad Gögging. Hier setzen die Therapeuten alles daran, den Erfolg der Kurzzeit-Reha auszubauen. Das Gehen am hohen Gehwagen ist das Ziel. Maria Albrecht macht Fortschritte. Zwei, drei Schritte sind erreichbar, aber die Knie sind instabil, können das Körpergewicht nicht halten. Nach gezielten Kräftigungsübungen können die Knie und Sprunggelenke wieder dazu beitragen, den Körper aufrecht zu halten. Am Unterarmgehwagen sind ganze 100 m möglich. Eines Tages kann ich wieder laufen, so der Vorsatz. Eines Tages kam schneller als gedacht. Aus 100m wurden 300m. Vom hohen Gehwagen über den Rollator zu den Nordic Walking-Stöcken. Maria Albrecht schreitet den Gang ohne Hilfe von Physiotherapeut Markus Schachner entlang.
UND DANN KAM CORONA
Die Rehabilitationsmaßnahme von Maria Albrecht wird 2020 unterbrochen. Reha- und Vorsorgeeinrichtungen werden zu Beginn der Pandemie dazu verpflichtet, Bettenkapazitäten freizuhalten. Und auch sonst ändert Corona einiges für Maria Albrecht. Sie versucht, Menschenansammlungen zu meiden, um sich keinen zusätzlichen Risiken auszusetzen. Das Schlimmste aber ist, dass sie ihre Mutter nicht so besuchen kann, wie sie es gerne tun würde. »Bis zu meiner Mama ins Haus waren es viele Treppen. Die habe ich einfach nicht geschafft.« 2021 stirbt die Mutter. Auch der Besuch der eigenen Familie während ihrer mehrwöchigen Reha ist durch die Corona-Schutzmaßnahmen eingeschränkt. Die täglichen Anrufe ihrer Familie und Sätze wie »Mama, bleib am Ball«, »Mama, du machst das super« geben ihr Kraft. »Und ich muss sagen, dass die Schwestern, die Pfleger, die Mitarbeiter im Service alle ihre Hilfe anbieten, das trägt zu einemgroßen Stück Wohlbefinden bei und dazu, dass man ein Auf hat.«
GROSSE (FORT)SCHRITTE
Nach Abbruch der Reha holt sich Maria Albrecht sofort Unterstützung. »Zu Hause in Mainburg suchte ich mir Ergo- und Physiotherapeuten.« Kein leichtes Unterfangen, zu Corona-Zeiten einen Termin zu bekommen. Die Ärztin in München setzt sich dafür ein, dass die Rehamaßnahme im Passauer Wolf Bad Gögging wieder aufgenommen werden kann. »Meine Physiotherapeutinnen, Frau Ettlinger und Frau Bürger, haben so lange hingearbeitet, bis sich die Muskulatur wieder eingespielt hat und ich wieder am Rollator gehen konnte.« Selbst Treppensteigen ist wieder möglich. Die Selbstständigkeit kehrt nach und nach zurück. Annick Fertig, die stellvertretende Teamleitung der Sporttherapie im Passauer Wolf Bad Gögging, hat Maria Albrechts Fortschritte mit dem Gangroboter Lyra begleitet und erinnert sich daran, dass ihre Füße zu Beginn noch auf die Platten gehoben werden mussten und sie in den Stand »gekurbelt« wurde. Binnen kurzer Zeit schaffte sie es selbst vom Rollstuhl auf das Gerät, stand aufrecht, hob Fuß um Fuß. Die Gehzeit wurde gesteigert, die Schrittlänge vergrößert, die Beckenkontrolle verbessert.
Immer wieder kann sie eine Hand lösen, muss sich nicht mehr beidhändig festhalten. Und auch das zählt zu den größten Wünschen von Maria Albrecht: wieder selbstständig im Alltag sein. Greifen nach oben fällt zunächst noch schwer. Etwas aus dem Regal zu heben, scheint schier unerreichbar. Aber Standausdauer und -sicherheit verbessern sich während der Ergotherapie. »Ich kann normal essen, normal schreiben. Ich kann soweit wieder alles machen. Das war anfangs undenkbar«, erinnert sie sich. Priv.-Doz. Dr. med. Tobias Wächter, der als Chefarzt die neurologische Fachabteilung im Passauer Wolf Bad Gögging leitet, schreibt das auch der vorangegangenen Behandlung zu, auf die die Rehamaßnahme aufsetzen konnte. »Dass Frau Albrecht gesundheitlich im wahrsten Sinne des Wortes so gut dasteht, setzt eine Reihe an sehr guten Entscheidungen von behandelnden Ärzten voraus.«
DIE BANANE KANN WEG
Manches von der Familie organisierte Hilfsmittel ist schon nicht mehr erforderlich. So ist die »Banane«, die den Weg vom Bett in den Rollstuhl erleichtert, aktuell gar nicht mehr vonnöten, weil Maria Albrecht das ganz alleine schafft. Wege im Haus erleichtert ihr allerdings künftig ein Treppenlift, der zu Hause bereits installiert wurde. Der betreuende Oberarzt der Neurologie im Passauer Wolf Bad Gögging, Dr. Lalbakhsh, ist sich sicher, dass Frau Albrecht die Gehstrecke und Erfolge zu Hause weiter ausbauen wird, »wenn sie mit therapeutischer Unterstützung übt, insbesondere das Gehen im Alltag, und sich weiter daran freut, dass es geht. Sie ist allgemein fit, und hochmotiviert. Das zeichnet sie aus.«
DER BERG HAT ZWEI SEITEN
»Ich kämpfe dafür, dass ich eines Tages wieder laufen kann, dass ich wieder unabhängig bin, dass ein einigermaßen normaler Rhythmus reinkommt in mein Leben, dass ich mit meinen Enkelkindern spielen, einkaufen, bügeln, waschen, Haare föhnen, wieder am Kochen teilnehmen kann. Ich kämpfe, bis ich an meinem Ziel angekommen bin. Ob ich selber wieder Auto fahren kann, weiß ich noch nicht, würde ich gerne«, erzählt sie. So manches Hobby kann Maria Albrecht nicht mehr ausführen, das Sticken beispielsweise, aber für sie zeigt sich Lebensqualität an den scheinbar selbstverständlichen Dingen: »Ich habe meine klaren Gedanken noch, ich kann am Leben teilhaben. Ich habe mir immer gedacht, es muss weitergehen. Schon alleine für meine Familie. All das ist es wirklich wert, dass man kämpft. Man soll sich nicht so schnell aufgeben. Dafür ist das Leben zu wertvoll.«
Ich zeichne mir immer einen Berg auf.
Wenn‘s runtergeht, muss es auch irgendwo wieder raufgehen.
Weitere Informationen zur Behandlung im Passauer Wolf Bad Gögging finden Sie hier.
Bildnachweis: Matthias Brandmeier I Die Knipserei 15