Fragen zum Wolf …
Die junge Wissenschaftlerin Gudrun Pflüger ist drei Jahre lang den Spuren der kanadischen Küstenwölfe gefolgt. Die Begegnung mit den einzigartigen Tieren sollte ihr das Leben retten.
Genetische Untersuchungen belegen, dass Küstenwölfe die ursprünglichsten aller Wölfe sind. Gudrun Pflüger hat bei ihrer Forschungsarbeit viel Erstaunliches entdeckt: Wenn die Lachse im Herbst die Flüsse zu ihren Laichgründen hinaufziehen, locken sie nicht nur Bären ans Ufer. Aus den Tiefen der Küstenregenwälder kommen auch Wölfe, um auf Lachsfang zu gehen. Doch sie verspeisen nur die Köpfe. Außerdem überwinden die Wölfe schwimmend Distanzen von über zehn Kilometern. Aber die Wissenschaftlerin will mehr über die seltenen Wölfe erfahren. Vor allem, wie groß ihr Verbreitungsgebiet und ihr ursprüngliches Sozialverhalten ist. In einem Gebiet, das fast so groß ist wie die Schweiz, gestaltet sich die Expedition wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
Unter Wölfen
Als ehemalige Profisportlerin im Skilanglauf und Berglauf ist die Österreicherin bestens auf die großen körperlichen Herausforderungen vorbereitet. Doch nach etlichen Fehlschlägen will Gudrun Pflüger die Expedition fast schon aufgeben – als sie auf einer einsamen Insel ein Rudel Wölfe entdeckt, das noch nie eine Begegnung mit Menschen hatte. Für die Wolfsforscherin geht ein Traum in Erfüllung. Auf offener Wiese steht sie dem Rudel Auge in Auge gegenüber. Die Tiere verhalten sich friedlich und akzeptieren sie. Die Wolfsjungen tollen in unmittelbarer Nähe umher. Pflüger sagt über diese Begegnung: »Ich habe mich noch nie so lebendig gefühlt, so als Mensch und zugleich so als Teil der Natur. So groß und so klein. So ich.« Sie verbringt eine Nacht unter Wölfen und zeigt, dass wilde Wölfe Menschen friedlich begegnen, wenn sie sich nicht bedroht fühlen. Wenige Wochen nach diesem prägenden Erlebnis wird bei Gudrun Pflüger ein Hirntumor diagnostiziert.

… Antworten zum Leben
»Ein Wolf zeigt sich dir nur, wenn er dir etwas erzählen oder mitteilen will. Und ich denke, dass die Wölfe mir einfach ihre Kraft mitgeben wollten und ihre Ausdauer für meine neue Reise, die ich eben jetzt vor mir habe.«
Doch die frühere österreichische Spitzensportlerin gibt nicht auf. Sie beginnt zu kämpfen, orientiert sich am unbändigen Lebenswillen, der Ausdauer, Leidensfähigkeit und Zielstrebigkeit der Wölfe. Sie wendet das an, was sie bei ihren Beobachtungen von den Tieren gelernt hat und den »Wolfspirit« nennt. Die Lebenskraft und der Teamgeist der Wölfe, alle ihre positiven Eigenschaften, sollen Gudrun Pflüger widerstandsfähig gegenüber den kommenden Herausforderungen machen. »Dank der Wölfe habe ich meine Liebe zum Leben gespürt, meinen Willen zum Überleben gestärkt und meinen Respekt gegenüber allem Lebendigen genährt«, schreibt sie in ihrem Buch. Informationen und Erfahrungen helfen der Biologin, ihre Ängste unter Kontrolle zu bringen.


Die Kraft der Wölfe
In vielen Kulturen wird der Wolf als Vermittler zum Totenreich verehrt. Man glaubt, dass er zwischen den Welten hin und zurückreisen kann. Und in der alten Edda symbolisiert der Wolf das Ende der Welt oder die Niederlage der Götter. Doch für Gudrun Pflüger sind Wölfe vor allem Meister der Effizienz. »Ich will wieder gesund werden«, notiert sie im Oktober 2005 und verspricht sich selbst, nicht aufzugeben, durchzuhalten. Doch um dieses Ziel zu erreichen, benötigt sie etwas Handfestes und Greifbares: den »Wolfspirit«! Zielstrebigkeit und Ausdauer sind etwas, das Pflüger gelernt hat, nicht zuletzt von den Wölfen, deren Spuren sie Monate und Jahre gefolgt ist. Sie sind die Ausdauerathleten im Tierreich. Mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von acht Kilometern pro Stunde können sie bis zu hundert Kilometer zurücklegen. 1.500 Kilometer und mehr entfernen sie sich von ihrer Heimat. Sie besitzen die Fähigkeit, beharrlich ein Ziel zu verfolgen und geduldig ihren Weg zu gehen, ohne nach links oder rechts abzuweichen – auch wenn sich die Beute meist außer Sichtweite befindet und der Erfolg hinter dem Horizont liegt. aufgeben ist ein tabu Ausdauer ist Charakterbildung. Vom Wolf lernt die Schwerkranke den eigenen Körper zu verstehen und ihn zu quälen. Geduldig geht sie ihren Weg und genießt das Gefühl der Erholung. Daraus schöpft sie die Kraft, sich mit Vertrauen nach vorne zu bewegen. Denn Ausdauer heißt bis zum Ende, bis zum Schluss mit den Kräften voll da zu sein. Wie der Wolf, der seine Beute verfolgt und nach Stunden oder Tagen noch Kraft für den Endspurt hat. Und dann wäre da noch das Rudel. Für Die Wildbiologin hat der Begriff eine sehr positive Bedeutung. Denn das Rudel ist aufeinander eingespielt. Der Teamgeist der Wölfe ist unglaublich. Sie wissen genau über den anderen Bescheid. Ständig kommunizieren sie miteinander und teilen mit, wie sie denken und wie sie sich gerade fühlen. Das sind für Pflüger sehr hilfreiche Charakterzüge, die sie sich für ihren eigenen Weg der Heilung zugelegt hat. Nach drei Jahren hat Gudrun Pflüger den Krebs überwunden. Der »Spirit« des Wolfs und der »Spirit« von vielen Freunden und ihrer Familie haben ihr geholfen. Ihre innige Beziehung zur Natur, in der alles möglich scheint, hat sich in der Begegnung mit den Wölfen so verdichtet, dass sie spürt: Sie ist ein Geschenk und ein Auftrag.
Bildnachweis: Gudrun Pflüger/Malik, Sportimpuls/Malik, Mauritius