Mensch und wolf – beide eint mehr, als Sie bisher gedacht haben. Worin sich zwei Arten, die auf den ersten Blick derart unterschiedlich scheinen, doch sehr ähneln.
Er ist oftmals ein Mysterium für uns Menschen, der Wolf, und viele betrachten seine allmähliche Rückkehr in deutsche Wälder mit Argwohn und Misstrauen. Doch als Bedrohung sahen wir den Hauptdarsteller unzähliger Sagen und Mythen längst nicht immer an – über Jahrtausende galt »Isegrim«, wie das Tier in der Fabel genannt wird, als unser Partner. Warum diese Sichtweise der Realität deutlich näher kommt als das »Feindbild Wolf«, weiß Verhaltensforscher Professor Dr. Kurt Kotrschal. Der österreichische Wissenschaftler des Jahres 2010 ist Leiter und Gründer des »Wolf Science Centers« in Ernstbrunn, der rund 40 Kilometer von Wien entfernt gelegenen Forschungsstation für »Menschen, Wölfe und Hunde«, wie Kotrschal selbst sagt.
Mensch im Wolfspelz
Bereits seit 2008 geht der leidenschaftliche Biologe, der für sein »Hobby sogar bezahlt wird«, mit den sagenumwobenen Tieren, die dort in artgerechter Rudelhaltung leben, auf Tuchfühlung. Und er hat Erstaunliches über Wölfe und die aus ihnen einst hervorgegangenen Hunde herausgefunden. Das Magazin »Wolfsspur« durfte ihm bei seiner Arbeit über die Schulter schauen: Eine Erfahrung, die zeigt, dass in uns Menschen viel Wölfisches schlummert. Oder im Wolf viel Menschliches? Die Unterschiede darin sind gar nicht so leicht zu erkennen ……
… Antworten zum Leben
Was Familien und Rudel gemeinsam haben und warum Hunde die optimalen »sozialen Schmiermittel« sind: Im Gespräch mit Professor Kurt Kotrschal.
WOLFSSPUR: Wolf und Mensch ähneln sich in vielerlei Hinsicht, sagen Sie. Worin liegen die Gemeinsamkeiten?
KURT KOTRSCHAL: Wir sind uns z.B. von den ökologischen Ansprüchen her sehr ähnlich. Wölfe leben fast vom Äquator ab bis weit jenseits des Polarkreises, das gilt für den Menschen natürlich auch. Aber vor allem sind wir beide Gruppenwesen und haben eine gute Organisationsstruktur innerhalb der Familie. Im Rahmen unserer Clans kooperieren wir sehr nett; beim Jagen, also bei der Nahrungsbeschaffung, und auch bei der Aufzucht der Kinder.
WOLFSSPUR: Kann man denn ein Wolfsrudel mit menschlicher Familie oder Freundeskreisen vergleichen?
KURT KOTRSCHAL: Natürlich, das ist exakt das Gleiche. Wolfsrudel sind ja Familiengruppen, die Alttiere sind die Elterntiere der anderen. Deshalb gibt es auch die hierarchischen Auseinandersetzungen nicht, an die man früher geglaubt hat. Dass der Leitwolf mit Gewalt seine Interessen durchsetzt, das ist nicht so. Die Jüngeren achten die Erfahrung der Älteren. Wenn Spannungen auftreten, dann geht man halt, sucht sich einen Partner und gründet ein neues Rudel. Der Mensch hat viele Sozialisierungen, die nicht auf Elternverwandtschaft beruhen, da sind wir etwas offener als Wölfe. Aber was ursprünglich zählt, das zeigt auch heute noch der Blick in viele andere Teile der Welt, ist die Familiengruppe. Wenn man kann, zieht man sein Business mit den eigenen Leuten hoch. Auch der Mensch hat eine sehr starke Verwurzelung in seiner genetischen Zugehörigkeit.

»Was man bei Menschen, Wölfen und Hunden braucht, ist positive Führung.«
WOLFSSPUR: Der Anschluss an eine Gruppe ist also elementar?
KURT KOTRSCHAL: Absolut! Ob Wolf oder Mensch: Man würde nicht verstehen, wie das Individuum tickt, wenn man die sozialen Anpassungen wegdenkt. Bei Wölfen gibt’s die frühe Sozialisierung im Rudel, beim Menschen ist das sogar noch extremer. Betreuung und Zuwendung in den ersten zwei Jahren haben einen maßgeblichen Anteil daran, wie Leute ins Leben gehen. Wie vertrauensvoll sie sind, wie sehr sie in der Lage sind, soziale Unterstützung zu geben und zu empfangen etc. Die frühe Sozialisierung ist ein Schlüsselfaktor. Beim Wolf ist das sehr ähnlich.
WOLFSSPUR: Stichwort Sozialisation: Sie befürworten, dass Kinder mit Tieren aufwachsen. Was bewirkt das?
KURT KOTRSCHAL: Da gibt es nichts zu befürworten; das ist eine wichtige Bedingung! Wenn’s nicht geht, geht’s nicht. Aber der Mensch braucht die Nähe zur Natur und zu Tieren. Hunde sind soziale Schmiermittel. Untersuchungen belegen z.B., dass sich Kinder, die mit ihnen aufwachsen, zu sozialkompetenteren Erwachsenen entwickeln.
WOLFSSPUR: Kann man das Nachholen?
KURT KOTRSCHAL: Aber sicher, Menschen sind unglaublich resilient. Man entwickelt sich ja nicht pathologisch, weil man nicht mit einem Hund groß wurde. Ich bin auch nicht mit einem aufgewachsen, aber ich frage mich immer, was aus mir geworden wäre, wenn. Tiere sind für Menschen wichtig, auch für viele Erwachsene.
WOLFSSPUR: In Ihrem Zentrum ist der Kontakt zu Wölfen und Hunden möglich. Wie reagieren Menschen darauf?
KURT KOTRSCHAL: Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man in Gegenwart von Wölfen konzentrierter ist. Sie haben einen Beruhigungseffekt. Menschen sind nach der Begegnung meist aufgeräumter und offener im Kommunizieren. Wölfe zu erleben, regt zum Nachdenken an, berührt uns auf einer tiefen emotionalen ebenso wie auf der kognitiven Ebene.
WOLFSSPUR: Wie ist denn Ihre persönliche Bindung zu den Tieren?
KURT KOTRSCHAL: Primär habe ich eine wissenschaftliche Beziehung. Aber natürlich kann man, wenn man mit Wölfen und Hunden arbeitet, nicht auf Distanz bleiben. Man wird Teil des sozialen Systems, und es ist toll, Wölfe als Partner zu haben. Dann muss man sorgsam mit ihnen umgehen, damit das so bleibt. Wölfe haben einen eigenen Kopf; sie kooperieren hervorragend mit Menschen, wenn sie einsehen, warum – und wenn sie das wollen. Dominanzausübung schädigt Langzeitbeziehungen. Was man bei Wölfen, Hunden und Menschen braucht, ist positive Führung. Wenn alle gern das tun, was sie tun sollen und einsehen, warum sie es tun sollen, dann passt’s. Das ist eine ganz einfache soziale Grundregel, in der Mensch und Wolf sich auch nicht wesentlich unterscheiden.

Lebensweg Kurt Kortschal
Er wurde am 5. Mai 1953 in Linz geboren und schloss 1979 das Biologie Studium an der Universität Salzburg ab. 1981 bzw. 1987 folgten Promotion und Habilitation. heute hat Kotrschal eine Professur für Verhaltensbiologie an der Uni Wien und leitet das von ihm mitgegründete »Wolf Science Center« (www. wolfscience.at). Der »Wissenschaftler des Jahres 2010« veröffentlichte diverse erfolgreiche Bücher, aktuell »Hund & Mensch – Das Geheimnis unserer Seelenverwandtschaft« im Brandstätter Verlag. Kotrschal, Präsident des Eurasier-clubs Austria, ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Bildnachweis: Robert Bayer, Caroline Haas, Walter Vorbeck