Seit einem Trainingsunfall im Sommer 2018 sitzt die zweifache Olympiasiegerin und elfmalige Weltmeisterin Kristina Vogel im Rollstuhl. Doch ihr gelingt es, dem Ganzen noch etwas Positives abzugewinnen.
Beim Training im Cottbuser Radstadion kollidiert Kristina Vogel am 26. Juni 2018 mit einem niederländischen Nachwuchsfahrer. Mit 60 Kilometern pro Stunde, nur durch die Haut und den Helm geschützt, kommt es zum Zusammenprall. Das Rückenmark der Bahnradfahrerin wird durchtrennt. Sie ist vom siebten Brustwirbel abwärts gelähmt und darf sich nicht bewegen. Ihre Teamkollegen Max Dörnbach und Maximilian Levy vom Chemnitzer Erdgas-Team rufen unter dem Hashtag #staystrongkristina eine Spendenaktion ins Leben und bringen rund 120.000 € zusammen, die Vogels Familie zur Verfügung gestellt werden. Kristina Vogel wird Geld brauchen, für ihr neues Leben im Rollstuhl.
Ihr Unglück berührt
Für Kristina Vogel ist das Glas immer halb voll. Fragt man nach ihren Stärken, fällt immer wieder ein Wort: Energie! Mit 19 war sie schon einmal verunglückt, nach dem Training mit dem Fahrrad. Zwei Tage lag die Radsportlerin damals im Koma, kämpfte sich zurück, nahm ihr Schicksal mit Humor. Jetzt erst recht, lautete danach ihre Devise. 2012 gewinnt sie mit Miriam Welte bei den Olympischen Spielen in London überraschend die Goldmedaille im Teamsprint. Vier Jahre später, bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro, fährt Vogel trotz eines verlorenen Sattels im Sprint zu Gold. Außerdem wird sie elfmal Weltmeisterin. Keine hat mehr Titel vorzuweisen. Die 28-Jährige ist eine der erfolgreichsten Bahnradsportlerinnen der Welt. Eine Kämpferin. Sie ist frei, hat keinen Druck mehr und in ihrem Leben alles erreicht, was man sportlich erreichen kann. Sie muss nichts mehr beweisen. Sie fühlt sich bereit für neue Dinge und blickt lebensbejahend und optimistisch in die Zukunft.
In der Reha ist die energiegeladene junge Leistungssportlerin kaum zu bremsen. Sie macht schnell Fortschritte. Nach drei Monaten ist sie in der Lage, selber vom Rollstuhl ins Bett zu wechseln und wieder zurück. Ihr erstes Ziel, wenn sie die Reha verlässt, ist, mit dem Rollstuhl Treppen hinunterzufahren, verkündet sie im September 2018 auf einer Pressekonferenz. Nach dem Unfall war sie froh über die Nachrichtensperre. Das gab ihr Zeit, den Unfall für sich selbst verarbeiten zu können. »Ich musste lernen, Emotionen zuzulassen. Und dass Tränen dazugehören«, erklärt sie in einem Interview. 18 Jahre Leistungssport haben Kristina Vogel geprägt. Als Sportlerin hat sie gelernt, Situationen zu akzeptieren und darauf zu setzen, es besser zu machen. Nicht verlorenen Chancen nachzutrauern. Sie nimmt ihr Schicksal an, um so schnell wie möglich vorwärts zukommen. Sie geht sehr offen mit ihrer Situation um und ist in den sozialen Netzwerken aktiv. Dort zeigt sie auch, wie sie zum ersten Mal versucht, sich aus dem Rollstuhl ins Bett zu hieven.
Es ist beeindruckend, wie positiv Kristina Vogel mit der Situation umgeht. Andere Menschen hätte unter ähnlichen Umständen vielleicht der Lebensmut verlassen, doch die ehemalige Weltmeisterin sagt, sie hatte einen Schutzengel. Sie hätte auch tot sein können. Gedanken daran, was gewesen wäre, wenn sie eine Sekunde später aufs Rad gestiegen wäre, lässt sie gar nicht erst zu: »Diese Fragen kann man nicht beantworten. Was ich machen kann, ist, die Geschichte hinauszutragen und anderen Motivation zu geben.« Durch ihre positive und abgeklärte Art und ihre Offenheit kann Kristina Vogel vielen Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind, Mut machen und ein großes Vorbild sein. Natürlich gibt es auch in ihrem Leben dunkle Momente, wo sie etwas ärgert oder nervt und sie einfach gern aufstehen würde. Aber das Leben ist trotzdem schön. Und es geht weiter. Nur nicht mehr als Fußgänger, sondern im Rollstuhl. Die Radsportlerin ist auf vier Rädern bald genauso schnell unterwegs wie auf zwei Rädern. Geschwindigkeit war immer ein Bestandteil ihres Lebens. Der Unfall hat Kristina Vogel abgebremst, aber ganz bestimmt nicht ausgebremst. Anfang Dezember 2018 kehrte die Weltmeisterin zurück in den Kreis der Radsport-Familie. Beim Bahnrad-Weltcup in Berlin wird sie von Außenminister Heiko Maas als Radsportlerin des Jahres ausgezeichnet. Gleichzeitig zollt der Minister der Radsportlerin Respekt für ihren tapferen Umgang mit der Querschnittlähmung.
Egal wie: Das Leben ist lebenswert!
Zukunftspläne
Während der Reha spielt Kristina Vogel Basketball, macht Bogenschießen und kündigt an, dass sie mit ihrem Rollstuhl in die Halfpipe will. Kein Wunder, dass alle fragen, wann sie zurück in den Leistungssport geht und was sie dann macht. Ihr ehemaliger Teamkollege Maximilian Levy meint: »Sie wird etwas brauchen, damit sie zufrieden ist. Wo sie ihre Energie reinsteckt. Ich hoffe, dass sie etwas findet, wofür sie sich begeistern kann.« Die Weltmeisterin möchte sich momentan noch nicht festlegen. »Ich bin körperlich noch nicht so fit, um wieder an Leistungssport zu denken. Ich brauche locker noch zwei bis vier Jahre, um überhaupt konkurrenzfähig zu sein. Ich gehe nicht zurück, um zu verlieren. Wenn, dann will ich gewinnen«, erklärte sie im »Aktuellen Sportstudio«. Doch derzeit ist sie mental einfach noch nicht so weit. Der Alltag einer Leistungssportlerin lässt sich mit ihrem jetzigen Leben nicht vereinbaren. Ihre Medienpräsenz sieht sie als Chance, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf Rand- und Parasportarten zu lenken. Aktuell verwendet sie ihre Energie darauf, ein eigenständiges Leben zu führen: »Ich bin noch wie ein Neugeborenes und habe einen langen Weg vor mir. Das ist nervig im Alltag. Alles dauert länger, viele Dinge gehen gar nicht, weil mir die Oberkörpermuskulatur fehlt.«
Sportlerin des Jahres
Bei der Wahl zur Sportlerin des Jahres 2018 landet Kristina Vogel mit nur 28 Punkten Rückstand hinter der deutschen Tennisspielerin und WimbledonGewinnerin Angelique Kerber zwar bloß auf Platz zwei, doch die ehemalige Bahnradfahrerin ist der eigentliche Star des Abends. Das weiß auch Angelique Kerber, die nach ihrer Wahl von der Bühne aus das Wort an die Zweitplatzierte richtet: »Du bist ein Vorbild für so viele Menschen. Du hast so viel Willensstärke gezeigt, so viel Mut und Kraft und bist immer positiv geblieben. Ich denke, heute gehört dir die Bühne. Bleib so, wie du bist.« Es ist wirklich beeindruckend, mit welcher Energie die querschnittsgelähmte Olympiasiegerin sich zurück ins Leben kämpft und neue Ziele ins Auge fasst.
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